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Interviews

CHRISTIAN MIKUNDA ÜBER HYPNOÄSTHETISCHEN RETAIL

POSTED 31.05.2020
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„Aufenthaltsqualität ist wichtiger als simple Verkaufsförderung ohne Basis und Gehalt. Wenn es aber den Menschen an einem Ort gut geht, kann das nicht schlecht für das Ganze sein – auch für den Umsatz.“

 

Wenn es um die „Experience Economy“ geht, ist Dr. Christian Mikunda ein weltweit gefragter Experte: Der gebürtige Wiener hat Theaterwissenschaften und Psychologie studiert und befasst sich seit einigen Jahrzehnten mit der von ihm begründeten strategischen Dramaturgie von (halb-)öffentlichen Orten wie Einkaufszentren, Flughäfen, Museen oder Krankenhäusern. Zusammen mit seiner Frau Denise Mikunda-Schulz führt er seit 1995 das Beratungsinstitut CommEnt, ist Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen, international anerkannter Redner und Autor zahlreicher Bücher. Er selbst ist der Meinung, dass in Zeiten des Online-Shoppings stationärer Handel und Erlebnis-Marketing immer mehr die schweren Geschütze auffahren müssen. Ladendramaturgie sieht er dabei nicht als „Verführung zum Kauf, sondern als Möglichkeit für ein kleines kalkulierbares Glück“. Mit uns sprach er über die Kunst der Hypnoästhetik, die anders als normales Storytelling direkt unter die Haut geht, da die Kundschaft nicht merkt, dass sie überhaupt da ist.

 

Die Fragen stellte Janina Poesch.

 

Christian Mikunda, Sie gelten als Begründer der strategischen Dramaturgie sowie als Vordenker der Erlebniswirtschaft. Viele Ihrer Erfahrungen haben Sie dabei bereits in Ihren bislang veröffentlichten Büchern theoretisiert. Vor einiger Zeit ist Ihr aktuellstes Werk erschienen: „Hypnoästhetik. Die ultimative Verführung in Marketing, Handel und Architektur“. Was unterscheidet diese Publikation von den anderen? Was können wir noch von Ihnen lernen?

Manche Auftraggeber fragen mich tatsächlich, ob alles Bisherige jetzt nicht mehr gilt. Nein, natürlich nicht. Meine Theorie hat sich im Laufe von 40 Jahren entwickelt und so, wie sich die Erlebniswirtschaft weiterentwickelte, habe auch ich mehr und mehr verstanden. Dabei stecken die einzelnen Ebenen der strategischen Dramaturgie ineinander wie die berühmten russischen Matrjoschka-Puppen. Ein Beispiel: Die Fassade des Louis Vuitton Flagship Store in Shanghai flimmert und leuchtet unentwegt, und der so erzeugte Augenkitzel tritt unseren sogenannten Orientierungsreflex los, sodass wir einfach hinschauen müssen: meine Theorie-Ebene von 1986 und 1995. Ein paar Ebenen darüber wird so aus dem Äußeren eines simplen Ladens eine sakrale Tempelfassade, die einen „Glory Effect“ auslöst, durch den wir uns staunend – dank der Serotonin-Ausschüttung in unserem Körper – ganz erhaben fühlen: die Hochgefühlstheorie von 2009. Aber erst, seitdem ich die Hypnoästhetik besser verstehe, kann ich mir erklären, warum ich mich dabei wie weggetreten fühle und meine Augen zu glänzen beginnen. Denn nach einigen Minuten des Flimmerns entsteht eine hypnotische Trance, als ob das Pendel eines Hypnotiseurs mich einlullen würde: meine Hypnoästhetik-Theorie ab 2019.

 

Sie selbst sagen, die Hypnoästhetik arbeitet mit den Tricks von Bühnen-Magiern genauso wie von Psychotherapeuten. Wie kann uns denn Ästhetik hypnotisieren?

Durch kompliziertes Fragen nach der nächsten U-Bahn-Station verwirrte der berühmte britische TV-Magier Derren Brown für seine Fernsehshow eines Tages einen Schmuckhändler in New York derart, dass dieser glatt in Trance fiel und durch suggestive Botschaften („It’s fine, it’s fine.“) simples weißes Papier für echtes Geld hielt, sodass er Brown einen Ring im Wert von 4.500 US-Dollar übergab. Victor Gruen, Architekt aus Wien und Urvater aller Shopping Center, beschrieb zu seiner Zeit schon, wie wir aufgrund solcher Signale in jeder gut gemachten Mall in Trance fallen („Gruen Effect“) und so für Spontankäufe zugänglich werden. So nutzt auch das Modehaus Breuninger beispielsweise in seinem Schuh-Salon in Stuttgart eine wogende Lichtdecke aus unendlich vielen LEDs für denselben Effekt: ästhetische Trance am POS.

 

Eine hypnoästhetische Marketing-Strategie folgt dabei verschiedenen Mechanismen. Welchen genau?

Es gibt vier Mechanismen. Von „Trance“ war ja schon die Rede: Hier wird unser Bewusstsein durch verschiedene Techniken für eine gewisse Zeit regelrecht „weggesaugt“. „Priming“ prägt uns indirekt: Der weltweit aktive Immobilienmakler Remax nutzt etwa einen Heißluftballon als Logo, da dieser durch das Schweben und Fliegen eine schwer auf unseren Schultern lastende Entscheidung für einen Hauskauf unbewusst etwas leichter macht. „Destabilization“ ist kontrollierte Verwirrung: Sie wirkt wie ein Spritzer kalten Wassers und ist dafür verantwortlich, dass vor einigen Jahren in Concept Stores plötzlich Tierskelette im Schaufenster auftauchten. „Attunement“ lässt uns im Gleichklang mit Ware und Marke schwingen und hat dazu geführt, dass statt Models zunehmend Designschaffende und Produzierende am POS abgebildet werden. Wenn auf einem Foto im Supermarkt etwa eine Bäuerin oder ein Bauer die eigenen Gurken liebevoll im Arm hält, überträgt sich deren Wertschätzung unwillkürlich genauso auf die Ware wie auf die Konsumierenden.

 

Nochmal ausführlicher zum Punkt „Destabilization“: Sie sagen, „Destabilization ist eine Technik der kontrollierten Verwirrung, die uns gerade hypnotisch dazu zwingt, uns der Welt gegenüber zu öffnen“. Bedeutet dies, jeder „gute“ Laden sollte die Kundschaft erst mal destabilisieren und irritieren?

Nein, aber der stationäre Einzelhandel versucht halt gerade zunehmend, die schweren Geschütze aufzufahren, um sich zu behaupten. Tabubrüche gehören da zum legitimen Repertoire. Wir haben zum Beispiel im Archiv viele Fotos von Läden in Barcelona, Singapur und sonstwo, bei denen Puppen mit Gasmasken davor stehen. Die Läden dahinter haben alle nichts Dunkles an sich, aber die Masken davor stoppen eben die potenzielle Käuferschaft (Einheimische ebenso wie Touristen).

 

Was also kann der Einzelhandel generell von der Hypnoästhetik lernen?

Meiner Meinung nach liegt der spannendste Vorteil darin, dass durch „Art Priming“ der kulturelle Aspekt der Warenwelt „herausgekitzelt“ wird. Jeder Schuh, jedes Sofa wurde schließlich mal von einem Designschaffenden gezeichnet und entworfen – ist also „A Piece of Art“. „Art Priming“ macht genau das sichtbar: Bei Fendi in Paris steht etwa eine jener Tornado-Skulpturen von Tony Cragg. Entlang dieser Plastik geht der Blick der Klientel unweigerlich nach oben, wo die Pelzmäntel hängen, die wir uns dadurch auch wie eine Bildhauerarbeit ansehen.

 

Kann der Online-Handel dabei auch von diesem Konzept profitieren?

Die Hypnoästhetik ist viel mehr eine Domäne des echten, sinnlich erfahrbaren Lebens und wird so zum Überleben des stationären Einzelhandels beitragen. In Südkorea werden etwa im Supermarkt große Holzpflöcke neben Pilze und Kartoffeln in die Regale gelegt, um durch dieses „Nature Priming“ das Erdhafte der Waren besser spürbar zu machen.

 

Das physische und ganzheitliche Erlebnis spielt demnach die größte Rolle. Wie lassen sich aktuell Shops und Stores, deren Wirkung tief unter die Haut gehen soll, noch inszenieren?

Aktuell bewundere ich die koreanische Brillen- und Sonnenbrillen-Marke Gentle Monster, die gerade weltweit mit ihren Flagship Stores für Furore sorgt. Einen ihrer Läden betritt die Kundschaft zum Beispiel durch ein altes Schiffswrack und kommt von einem Raum, wo ein Baum horizontal durch die Wand gesteckt wurde, zu einem anderen mit sich magisch bewegenden Säulen – unwiderstehliches „Art Priming“.

 

Welche Rolle spielt dabei die Käuferschaft und deren Customer Journey?

Die Kundschaft spielt mit und nutzt die Inszenierungen als Instagram-Moment. Im Camp Nou, dem Stadion des FC Barcelona, verführen die Puppen der Spieler die Klientel etwa dazu, sich auch mit einem Trikot des Vereins in die Reihe zu stellen – breitbeinig mit hinten verschränkten Armen, aufgestellt wie während der Hymne.

 

Sie sagen, Storytelling ist „schal“ geworden und es braucht neue Formen der Inszenierung und Dramatisierung. Wie lassen sich Marken und Handel mit neuer Bedeutung aufladen?

Bei Engelhorn in Mannheim habe ich im Eingangsbereich zur Herrenmode zwei Mühlsteine entdeckt: Kunstwerke als „Art Priming“. Früher wäre rund um die Anzüge vielleicht eine Thematisierung gebaut worden – etwa ein britischer Herrenclub mit getäfelten Wänden, Ledersofa und Globus-Bar. Aber das ist heute banal. Die Mühlsteine erzeugen vielmehr eine unbewusst wahrgenommene Vorinszenierung – männlich, schwer, rau –, durch die wir uns auch die Anzüge – männlich, handgefertigt – mit einem maskulinen Blick anschauen.

 

Welche Trends lassen sich weiterhin ablesen? Wie wird uns der Handel in Zukunft noch verführen können?

Der Trend geht weg von simpler Deko zu einer tieferen Interpretation von Marke und Ware. Dabei werden Handel, Kunst und Lifestyle immer mehr miteinander verschmelzen. Das sehen wir nicht nur in Weltstädten wie New York, sondern tatsächlich überall: Zum Beispiel schwebt im Modehaus Roth in der südoststeirischen Kleinstadt Feldbach eine ironische Installation des Floristen Andreas Stern im zentralen Atrium, die er „Mein Kleiderschrank“ nennt. Sie besteht aus 10.000 dünnen Kleiderbügeln: jeder einzelne ganz leicht, alle zusammen unglaublich schwer. „Art Priming“ ist überall, die Provinz verschwindet.

 

Von welchen Disziplinen kann sich der Retail noch positiv beeinflussen lassen?

Eben nicht nur von moderner Kunst, sondern auch von sinnlicher Architektur, von Events und jeder Art von „Popular Culture“ – derzeit etwa Graffitis. So verwenden die neuen „Outdoor Malls“ in Dubai, wie City Walk oder La Mer, beispielsweise Graffitis im Stil von Banksy, um urbaner zu wirken. Und in Miami fließen die Murals, die im Viertel Wynwood bestaunt werden, hinüber in den „Design District“, wo unter dem Einfluss der Art Basel neue, tolle Flagship Stores entstanden sind.

 

Nochmal zurück zur Hypnoästhetik: Wie kam es zu dieser Theorie?

Eines Tages habe ich in einem kleinen Laden in Venedig eine Kopie von Jan van Eycks Gemälde „Mann mit Turban“ gekauft. Ich war fasziniert, wie der Maler lang vor Erfindung der Fotografie das gemalte Gesicht „überbelichtete“ und damit einen hypnotischen Effekt schuf. Später habe ich herausgefunden, dass ich diese Faszination mit Leonardo da Vinci teile, der in seiner „Felsgrottenmadonna“ denselben Effekt nutzte. Dann – großer Sprung – ließ ZARA die Wimpern von Schaufensterpuppen auf die Wangen rutschen, LANVIN verwendete übergroße Puppenköpfe und es tauchten die mehr als zwei Meter großen „Giant Mannequins“ auf. Zugleich lernte ich den weltweit renommierten Psychotherapeuten Jeff Zeig kennen. Jeff ist heute ein enger Freund: Zehn Jahre lang haben wir uns regelmäßig getroffen und so lange geredet, bis ich alles über Hypnotherapie wusste – die Methode, die Jeffs Lehrer Milton H. Erickson in die Welt gebracht hat.

 

Können denn neben dem Retail auch andere Disziplinen von der Hypnoästhetik lernen? Bzw. kann sie auch in anderen Bereichen zum Tragen kommen?

Die vier Mechanismen der Hypnoästhetik lassen sich alle bereits bei Milton H. Erickson ausfindig machen: Er hat sie etwa verwendet, um das Leid von Schmerzpatienten allein durch suggestive Geschichten zu lindern, die er ihnen in der Trance erzählte. Dementsprechend finden sich die spannendsten Anwendungen auch im „Social Priming“: Wir selbst haben in zwei Pflegekrankenhäusern versucht, die Aufenthaltsqualität zu verbessern. Beeindruckt hat mich zudem ein Hotel mit Restaurant in Künzelsau, in dem viele Mitarbeiter das Down-Syndrom haben. Jene arbeiten hier nicht nur versteckt in der Küche, sondern überall – auch an der Rezeption oder im Service. Was entsteht, ist eine zärtlich-solidarische Grundstimmung, die Mitarbeitende wie Gäste „primt“. So sollte die Welt sein!

 

Sie erwähnten oben den Wiener Stadtplaner und Architekten Victor Gruen (19031980) sowie seinen Einfluss auf unser aktuelles Einkaufserlebnis. Was haben Sie selbst von Gruen, dem„Vater moderner Einkaufszentren“, gelernt?

Kurz gesagt: Eine Mall ist wie eine Stadt. Auch ein Flughafen ist eine Stadt, ebenso wie ein Krankenhaus oder jeder andere halb-öffentliche Ort.

 

Was sollten wir alle von Gruen lernen?

Die Aufenthaltsqualität ist wichtiger als simple Verkaufsförderung ohne Basis und Gehalt. Wenn es aber den Menschen an einem Ort gut geht, kann das nicht schlecht für das Ganze sein – auch für den Umsatz.

 

Eine Frage zum Schluss: Sie führen keinen offiziellen Instagram-Account. Dabei sehen Sie doch bestimmt täglich perfekt inszenierte Orte, Räume und Dinge, die hier gepostet und mit der Öffentlichkeit geteilt werden könnten. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Wie schätzen Sie die Macht der sozialen Medien vor allem für den Retail ein?

Ja, das stimmt, ich bin weder auf Instagram, Facebook noch Twitter – obwohl wir ständig wirklich großartige Orte sehen (und fotografieren). Aber wir wissen halt oft vieles von diesen Orten, was zur Geheimhaltung gehört, zu der wir uns als Beratende verpflichtet fühlen. Prinzipiell bin ich natürlich ein Fan des Instagram-Moments, mit der die Kundschaft ihre Erlebnisse teilt. Deshalb beraten wir prinzipiell auch nur Orte, für die kein Fotografie-Verbot gilt – von wenigen Ausnahmen mal abgesehen. Ich glaube, die Welt darf nicht mit großer Schaulust aufgeladen und den Menschen zugleich verboten werden, davon etwas mitzunehmen.

 

Christian Mikunda, vielen Dank für das kurzweilige Gespräch!

 

Zur Person

Christian Mikunda, Jahrgang 1957, gilt als Begründer der strategischen Dramaturgie. Das In-Szene-setzen hat er dabei als Dramaturg bei Film und Fernsehen gelernt, seither lassen ihn auch im „richtigen Leben“ Inszenierungen nicht mehr los: Er berät die Automobilindustrie sowie den Einzelhandel, Fernsehanstalten, Museen und Flughäfen, entwickelt Brandlands und Shopping Malls, findet den „roten Faden“ für Städte und Regionen und lehrt bzw. referiert weltweit darüber, wie an inszenierten Orten gute Gefühle erzeugt werden können.

FACTS

Kontakt:

Christian Mikunda/CommEnt Mikunda-Schulz, Wien (AT) > www.mikunda.com

Foto:

Christian Mikunda/CommEnt Mikunda-Schulz, Wien (AT) > www.mikunda.com