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Interviews

BIRGIT WIENS ÜBER DIE (NEU-)BETRACHTUNG VON SZENOGRAFIE

POSTED 14.02.2020
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„Bühnenbild, und potenziell auch eine auf andere Bühnen und Gestaltungsfelder ausgreifende Szenografie, ist eine Kunst.“

 

Birgit Wiens forscht am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München im Schwerpunkt „Szenographie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart“, seit 2015 mit Förderung im Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bereits 2016 hat sie das Symposium „The Art of Scenography“ organisiert und damit wichtige Impulse für den Diskurs über Bühnenbild gesetzt – woraus das von ihr gerade herausgegebene Buch „Contemporary Scenography – Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design“ entstand. Nun hat die Theaterwissenschaftlerin die Veranstaltung „Szenographisches Wissen und das Archiv – Eine Tagung über Bühnenbild“ ins Leben gerufen, die Ende Januar 2020 im Roten Salon der Volksbühne Berlin stattfand. Wir waren vor Ort und haben mit ihr über die gegenseitige Wahrnehmung und Veränderung von Bühnenbildpraxis und Wissenschaft gesprochen und darüber, warum Bert Neumann nicht mehr wegzudenken ist.

 

Die Fragen stellte Robert Kraatz.

 

Birgit Wiens, am Anfang steht immer das Ringen um Worte und Begrifflichkeiten: Sie verwenden etwa den Ausdruck „Szenografie“, um die Vielschichtigkeit und Entwicklung im Bereich inszenierter Raumgestaltung zu fassen. Im deutschsprachigen Theater hält sich – trotz aller künstlerischen Experimente – der Begriff „Bühnenbild“ jedoch stoisch. Löst „Szenografie“ letzteres ab oder vielmehr auf?

Die Frage ist absolut berechtigt: Tatsächlich wird Szenografie, theaterbezogen, im deutschsprachigen Raum fast nur in der Theaterwissenschaft verwendet, um damit Bühnenexperimente seit der historischen Avantgarde zu bezeichnen – bis hin zu den vielgestaltigen Konstellationen von heute, die oft über die Bühne oder auch das Theatergebäude hinaus in den Stadtraum und in mediale Räume ausgreifen. Besonders mit den postdramatischen und intermedialen Spielarten der letzten Jahrzehnte hat sich das Bühnenbild enorm ausdifferenziert: Tendenziell ist es von einer Bild- zu einer Raumkunst geworden, und Szenografie ist nun unser Suchbegriff, um das heute sehr breite Spektrum zu beschreiben. Im anglo-amerikanischen Raum, wo es eine intensivere Forschungsdiskussion gibt als bei uns, ist der Ausdruck „Scenography“ weitreichend etabliert. Um die ganz aktuellen Aufweitungen des Feldes zu signalisieren, wird hier inzwischen sogar von „Expanded Scenography“ oder „Performance Design“ gesprochen. Die Begriffe sind also stark in Bewegung …

 

Bei der 2016 von Ihnen organisierten Veranstaltung in der Akademie der Bildenden Künste in München luden Sie verschiedene Wissenschaftler und Künstler ein, sich mit szenografischen Begriffen und Entwicklungen auseinanderzusetzen. Was war damals das Ergebnis?

Unter dem Titel „The Art of Scenography – Aesthetics and Epistemes“ hatten wir in München einen breiten, kunstkomparatistischen Ansatz, mit dem wir Szenografie auf unterschiedlichen Feldern – einschließlich Ausstellungen und Museen – thematisiert haben. Ausgehend vom Theater war mir dabei wichtig, dass gesagt wird: „Bühnenbild, und potenziell auch eine auf andere Bühnen und Gestaltungsfelder ausgreifende Szenografie, ist eine Kunst.“ Ein Kollege sagte damals zu mir: „Das ist ja mal eine Ansage.“ Und ich sagte: „Ich weiß.“ Es ging mir darum, zu betonen, dass Bühnenbild nach heutiger Auffassung eben nicht „Ausstattung“ oder gar „Dekoration“ meint, sondern den eigenständigen künstlerischen Beitrag, den Bühnenbildner zur Inszenierungsarbeit leisten. Es ist eine Kunst, die – für sich gesehen sowie in der Kollaboration mit anderen – Kreativität, gestalterischen Mut sowie vielerlei Kompetenzen verlangt, oder anders gesagt: künstlerisches Wissen. Deshalb die Frage nach „Ästhetiken und Epistemen“. Wie Theater überhaupt, ist Bühnenbild eine ephemere Kunst, wird entworfen, später weggeworfen oder zerlegt, manches geht ins Depot. Gleichwohl ist es als künstlerische Praxis etwas, das über die einzelnen Aufführungen hinausweist und auf einer übergeordneten Ebene einen Diskurs führt – einen Diskurs über Räume und darüber, wie wir Welt gestalten und wahrnehmen. Darin liegt meines Erachtens die Relevanz dieser Kunst, die vergleichsweise wenig beachtet wird. Es ging mir insgesamt darum, überhaupt mal den Fokus auf diese „merkwürdige Kunst“ zu richten, deren Artefakte selten in Galerien oder Museen gelangen. Und als Theaterwissenschaftlerin habe ich mich gefragt: Wo ist eigentlich der Gegenstand in unserem Fach? Denn er fällt ja in ein „Dazwischen“ mehrerer Disziplinen, namentlich Theater-, Kunst- und Medienwissenschaft, Architektur- und Designtheorie.

 

Warum findet Bühnenbild – trotz der großen Vielfalt an künstlerischem Output, also quasi vielen Forschungsgegenständen – Ihrer Meinung nach, nicht allzu viel Beachtung in der Theaterwissenschaft?

Das mag mit der Fachtradition und den Anfängen zu tun haben, als sich die Disziplin von den Philologien abgrenzte und die Aufführung als ihren Hauptgegenstand definierte. „Bühnenkunst ist Raumkunst.“ So lautet die bekannte Formel Max Herrmanns – einer der Gründungsväter, der Theater als ein dem Hier und Jetzt verpflichtetes, von Spielern und Zuschauern gemeinschaftlich hervorgebrachtes Ereignis definierte, das einen Ort (die Bühne) ästhetisch in einen Kunstraum verwandelt. Es wurden Methoden zur Aufführungsanalyse erarbeitet und weiterentwickelt – wobei auch Raum und Bühnenbild darin berücksichtigt sind – aber vorwiegend mit Hauptaugenmerk auf die Spieler und die ko-produzierende Wahrnehmung durch das Publikum. Im Bühnenbildner wurde ja lange nur der „Gehilfe des Regisseurs“ gesehen, um Herrmann nochmals zu zitieren. Ein etwas anderer Ansatz wäre nun, die Elemente des Bühnenbilds, Licht und Bühnentechnik ebenfalls als (nicht-menschliche) „Akteure“ und eben nicht als „Ausstattung“ aufzufassen. Wie Heiner Goebbels vor einiger Zeit schrieb, bedeutet dies aber einen Blickwechsel: „Die Bühne ist nicht illustratives Dekor, sondern selbst Kunstwerk. Und der Darsteller muss akzeptieren, dass er die Präsenz mit allen beteiligten Elementen teilt, die zur Realität der Bühne gehören.“ Gleiches gilt auch auf der Seite des Publikums, der Theaterkritik und der Analyse. Welche Erkenntnis eine solche Perspektive bringt? Inzwischen kommen als Herausforderung für die Forschung noch inter- und transmediale Raum-Konstellationen hinzu. Da gibt es also noch viel zu tun …

 

Kommt die Forschung der Praxis denn überhaupt hinterher?

Es gibt wichtige Ansätze von verschiedener Seite – darunter die Frage nach dem „Wissen der Künste“, ein neues theaterwissenschaftliches Interesse für die Dinge, deren Materialität und für Akteur-Netzwerke. Und natürlich gibt es auch in den anderen Arbeitsfeldern des Fachs immer viel zu tun. Im Übrigen sehe ich es nicht als Aufgabe unserer Forschung, die Vorhut zur Praxis zu sein. Vielmehr geht es um einen Dialog zwischen Theorie und Praxis. Die Aufgabe von Theaterwissenschaft – so sehe ich es – liegt darin, dem künstlerischen Experiment oder Denken, das sich in der Kunstpraxis artikuliert, so fragend, aufmerksam und differenzierend wie möglich zu begegnen sowie Analyse und Diskussion im größeren Theorie-Zusammenhang zu leisten. Womit wir wieder bei der Suche nach angemessenen Begriffen wären … Zuvor gehört aber auch das Dokumentieren und Beschreiben dazu – gerade bei unserem flüchtigen Gegenstand.

 

Welche Rolle spielen dabei die Künstler? Wie sieht hier der Dialog aus?

Im Zuge meiner Forschungen zu Szenografie und zeitgenössischem Bühnenbild fiel mir auf, dass sich seit zehn bis 15 Jahren Publikationen mehren, die gar nicht notwendigerweise von Theater- oder Kunstwissenschaftlern gemacht wurden, sondern die von Künstlerseite selber kommen. Das sind monografische Publikationen über die eigene Arbeit, wie etwa von Janina Audick, Katrin Brack, Barbara Ehnes, Annette Kurz, Bert Neumann, Jan Pappelbaum oder Anna Viebrock. Viele erschienen bei Theater der Zeit oder anderen Verlagen. Auf sehr unterschiedliche Weise geben diese Bücher Einblicke in bühnenbildnerisches Arbeiten, zeigen Produktions- oder auch Probenfotos, dokumentieren Modelle, Entwurfsskizzen und -prozesse, meist ergänzt durch Interviews, Gespräche mit anderen Künstlern und das am Ende übliche Werkverzeichnis. Offensichtlich gibt es das Bedürfnis, diese Kunst über die einzelnen Arbeiten hinaus zu dokumentieren, sie nach außen zu tragen und ein Stück weit Stellenwert, Relevanz und Eigenarten dieser Kunst zu beleuchten. Daran knüpfe ich an und merke, es gibt viel Bedarf – vielleicht auch aus der Erfahrung heraus, dass natürlich ständig produziert wird, aber selten etwas bleibt. Mit dem Dialog-Angebot werden also meist offene Türen eingelaufen.

 

Ließe sich sagen, dass ein stärkeres Selbstverständnis für die eigene Kunst, weg vom „Gehilfen des Regisseurs“, zu dem Wunsch führt, auch über die zeitliche Begrenztheit der Aufführung hinaus, die eigene Arbeit zu dokumentieren und in gewisser Weise zu archivieren? Womit wir ja auch bei einem der Schwerpunkte Ihrer Tagung sind, die soeben stattfand.

Dieser Wunsch zu dokumentieren und zu archivieren hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Künstler heute anders – meist freiberuflich – arbeiten und sich somit nach außen vermehrt darstellen müssen. Dabei sind Art und Umfang wie sie die Dinge aufbewahren und mit ihren Arbeiten verfahren, höchst unterschiedlich: Einige sammeln, fotografieren und dokumentieren, weil sie sozusagen mit sich selbst und ihren Ansätzen im Dialog bleiben möchten. Einige verschenken an Archive oder sammeln womöglich für den Nachlass. Andere schmeißen viel weg, damit wieder Platz für neue Ideen ist. Derzeit kommen aber noch weitere Ansätze dazu, die mit Digitalität und digitalen Medien zu tun haben: Wie etwa der Ansatz von Marcel Karnapke, Mitbegründer des Künstlerkollektivs CyberRäuber, der „Digitalisate“ von Bühnen herstellt, um damit wieder künstlerisch etwas Neues zu machen. Beim Formulieren des Tagungsthemas ging ich von dem Eindruck aus, dass das Spektrum, wie mit diesen Artefakten an der Schwelle von Bühne und Archiv umgegangen wird, sich gerade stark auffächert.

 

Das Theater an sich ist ein spannender Ort, um den Diskurs von Wissenschaft und Kunst zu fordern und zu fördern. Allerdings war die Berliner Volksbühne in jüngster Zeit auch sehr umstritten. Warum fand Ihre Tagung dort statt?

Wir haben die Veranstaltung quasi satellitenhaft in Berlin ausgerichtet. Es ging darum, über mein eigenes Projekt an der LMU München hinaus, die Forschungsfragen ins Fach sowie in die Öffentlichkeit zu tragen und dafür zu werben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und natürlich hatte das Tagungsthema auch mit der Volksbühne zu tun – ein Ort, an dem Bühnenbild als Kunst und Diskurs besonders im Fokus steht. Dies ist zu großen Teilen dem Bühnenbildner Bert Neumann zu verdanken. Als er 2015 plötzlich starb, empfand ich das als eine starke Zäsur und wie sich Kritiken, Beiträgen und Nachrufen entnehmen lässt, ging es vielen Leuten ähnlich. Als „bildender Künstler, der am Theater arbeitet“ (so sein Selbstverständnis), hat er den Bühnenbildbegriff entschieden erweitert. Seine Bühnen und temporären Architekturen wiesen über sich weit hinaus und schienen die Transformationen des öffentlichen Raums nach der Wende und dessen Gentrifizierung zu reflektieren. Auch arbeiteten stets unterschiedlichste Künstler an der Volksbühne: von Katrin Brack zu Jonathan Meese und Vinge/Müller bis hin zu Anna Viebrock, die er als Leiter der Bühnenabteilung einlud, ihre jeweiligen Ideen zu verwirklichen. Angefangen von Piscator bis hin zu den Künstlern, die jetzt dort arbeiten, etwa Susanne Kennedy und andere, und eben durch Neumanns Erbe ist die Volksbühne bis heute ein besonderer Ort für Bühnenbild und das Nachdenken darüber. Hinzu kommt, dass Klaus Dörr, der Intendant des Hauses, sofort offen war für das Tagungsprojekt und uns dabei sehr unterstützt hat.

 

Welches Publikum konnten Sie mit der Veranstaltung erreichen?

Ich war natürlich gespannt, wer kommt. Denn die Tagung richtete sich an mehrere Adressaten: an Wissenschaftler, Künstler und an Studierende – an alle, die sich für Theater, Theaterkritik, Kunst, Architektur und inszenierte Räume interessieren. Wir wollten bewusst verschiedene Seiten in eine Diskussion bringen, mit dem Ziel, das Thema nach vorne zu bringen. Ich denke, prinzipiell ist das auch geglückt.

 

Die Tagung hat sehr durch die Vortragenden und ihr Material gelebt: Von Michael Simon über Janina Audick bis hin zu den CyberRäubern haben sich verschiedene Arbeitsweisen und -welten abgebildet und es wurden viele interessante und wichtige Diskurse innerhalb der Theater- und Szenografie-Welt angesprochen. Gerne hätte ich mir noch einen weiteren Tag gewünscht, an dem es mehr Raum für Diskussionen mit dem Publikum gegeben hätte: von Urheberrechten bis Digitalität, von der Wahrnehmung der Archive bis hin zu einem „queeren“ Raumverständnis.

Ja, das Programm war relativ dicht, aber klar strukturiert. „Scenography never starts from Point Zero.“ Diese These des norwegischen Architekten und Künstlers Serge von Arx war quasi ein Mitbringsel aus unserer Münchner Tagung und anknüpfend daran, ging es in der ersten Runde – durchaus grundsätzlich mit der Frage nach dem gegenwärtigen Stellenwert von Bühnenbild in Inszenierung und künstlerischer Kollaboration am Theater – um Dokumentations- und Archivpraktiken sowie Diskursbewegungen von Szenografie. Ausgangspunkt war eine Provokation, die ich Janina Audicks Buch entnommen hatte: „Ist es nicht an der Zeit, sie [die Bühnenbilder] als Kunstwerke autonom, zu verstehen und nicht als dienstleistende Räume?“ In ihrem gemeinsamen Beitrag mit Sina Manthay und Andrej Mircev machte Janina Audick dabei den Begriff des „nicht regierbaren Bühnenraums“ stark, mit Verweis auf den Archiv-Begriff Foucaults und daran anschließende Diskussionen. Über ihre Arbeit im Spannungsfeld zwischen Archiv und Praxis berichteten, anhand von Projektbeispielen, zwei weitere Künstler: Barbara Ehnes, die sich parallel zu ihrer bühnenbildnerischen Arbeit am Theater mit freien Projekten und dem Motto „Alles auf Anfang“ immer wieder selbst herausfordert. Und Michael Simon, der ebenfalls in verschiedenen Formaten arbeitet. Er jedoch schöpft aus der Selbstbefragung seines persönlichen Archivs und besteht zugleich darauf, Bühnenbild als „prozessualen Raum“ zu verstehen, der „sich erst auf den Proben zwischen Dingen und Spielern entwickelt“. Zudem brachte er mit „Recycle yourself!“ ökologische Aspekte in die Diskussion ein. Dokumentieren oder gar Archivieren ist die Schnittstelle, an der Szenografie diskursivierbar wird, andererseits sträubt sich der Gegenstand auch dagegen. Wenn wir akzeptieren, dass Bühnen „nicht regierbar“ sind, wie wäre Archiv dann zu denken? Weitgehend offen blieb auch, welche Funktion die Theaterkritik (vertreten durch Christine Wahl) hier übernehmen könnte, sofern sie sich ihrerseits hinterfragt und riskiert, gewohnte Beobachterpositionen zu verlassen. Im zweiten Podium wurde dann ein etwas anderer Akzent gesetzt: Hier lag der Schwerpunkt auf neuen Konzepten performativer und medienbasierter Archive und der Frage, inwiefern sich mit ihnen sowohl für die künstlerische als auch für die wissenschaftliche Arbeit neue Möglichkeiten eröffnen …

 

… Inwiefern wir aber auch an Grenzen stoßen: Oliver Proske und Marcel Karnapke berichteten beide davon, dass einige Theater sich schwer tun, die neuen Technologien zu integrieren – eine Art „Kompatibilitätsproblem“ sowohl auf struktureller als auch auf ästhetischer Ebene. Stephan Dörschel von der Berliner Akademie der Künste sprach dagegen vom enormen Aufwand der Digitalisierung in der Archivarbeit, dem ein sehr geringes öffentliches Interesse entgegensteht und Franziska Ritter von der TU Berlin wiederum mahnte einen vorurteilsfreien, aber verantwortungsvollen Umgang mit Techniken wie VR und AR an. Spielt in der Szenografie von morgen das Programmieren bald eine größere Rolle als das Handwerk?

Beispielhaft präsentierten sich mit den CyberRäubern und Oliver Proske von Nico and the Navigators zwei unterschiedliche Ansätze: zum einen die Idee, vorhandene Bühnenbilder zu digitalisieren, virtuell bespiel- und interpretierbar zu machen (VR), und zum anderen, Augmented-Reality-Technologien zu nutzen, um die räumliche Wahrnehmung des Publikums via AR-Brille zu manipulieren oder positiv gesagt, anzureichern, sodass sich Schichtungen aus Materiellem und Virtuellem ergeben. Die künstlerische Erprobung von Digital-Technologien und Erweiterung ihrer Ästhetiken sind im Theater längst keine Neuheit mehr, obschon sich viele (auch rechtlich ungeklärte) Fragen stellen – wie etwa, inwieweit Programmieren künstlerischem Arbeiten gleichzustellen wäre. Strukturell müssen sich Projektteams ihre Bedingungen meist erst schaffen. Gleichwohl ging es uns darum, aus der Sicht der Szenografie-Forschung solche Entwicklungen zu diskutieren, die gerade anstehen – denken wir etwa an Initiativen wie die neue Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund. Was heißt das für unsere Frage nach den medienbasierten Archiven? Im Kontext welcher Institutionen (Theater, Museen, Archiv-Einrichtungen) können sie künftig zugänglich werden? Wie werden sie organisiert, vernetzt und welche (wissenschaftlichen und/oder künstlerischen) Nutzungen werden denkbar? Wie ändern sich vielleicht die Institutionen? Da herrscht – an dieser Stelle waren sich jedenfalls alle einig – noch Diskussionsbedarf …

 

Was ist Ihr bisheriges Feedback und vielleicht auch Fazit zur Veranstaltung?

Es klang ja schon an: Es gab großen Zuspruch, wie etwa durch den Bund der Szenografen, dem Berufsverband der Künstler in diesem Feld. Als durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt – auch wenn es zwischen Praxis und Theorie angesiedelt ist –, ist meine Aufgabe aber die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Und dass es für mein Fach da weiterhin sehr viel zu tun gibt, wurde meines Erachtens auch mit dem dritten und letzten Podium besonders deutlich, das sich dem Stand der Szenografie-Forschung widmete. Insgesamt betrachtet, konnten hier manche Aspekte unseres Themas, trotz eingeplanter Diskussionszeit, nur angerissen werden – was, wie ich hörte, einige Besucher bedauert haben. Ich hoffe, dass die mit meiner Initiative und mit der Tagung gesetzten Impulse aber auch von anderer Seite aufgegriffen werden und sich ein Diskurs zu Szenografie und zeitgenössischem Bühnenbild etabliert. Gleich nach der Veranstaltung war ich in Gießen auf einer Tagung zu Choreografie, die derzeit ebenfalls eine vergleichbare Aufweitung auf andere Kunst- und kulturelle Felder erfährt. Dort widmeten sich Fachkollegen zwei Tage lang diesem Gegenstand. Das würde ich mir auch für die Szenografie wünschen. Meinerseits beginnt nun die wissenschaftliche Auswertung unserer Volksbühnen-Tagung, weitere Arbeit an Theorie- und Methodenentwicklung und auch eine neue Buchpublikation ist in Vorbereitung.

 

Birgit Wiens, vielen Dank für das umfangreiche Gespräch!

 

Zur Person

Birgit Wiens, Jahrgang 1965, ist Theaterwissenschaftlerin und leitet an der LMU München derzeit das Forschungsprojekt „Szenographie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart“ im Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sie studierte an der LMU München sowie an der Washington University in St. Louis und promovierte 2000 in München. Nach Tätigkeiten als Dramaturgin, Kuratorin und Projektleiterin (u.a. für das Bayerische Staatsschauspiel und das ZKM Karlsruhe), folgten Lehraufträge an der HfG Karlsruhe und von 2004 bis 2009 eine Theorieprofessur an der HfBK Dresden im Studiengang Bühnen- und Kostümbild. Von 2010 bis 2013 realisierte das DFG-geförderte Projekt „Intermediale Szenographie“, 2013 folgte die Habilitation an der LMU München. Unter ihrem Namen erschienen einige Publikationen. Das aktuell von ihr herausgegebene Buch „Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design” wurde 2019 veröffentlicht.

FACTS

Kontakt:

Birgit Wiens/Ludwig-Maximilians-Universität München, München (DE) > www.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de

Foto:

Annette Riedl, Berlin (DE) > www.annetteriedl.de