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Inszenierungen im Raum

Die Stille der Stadt

POSTED 18.02.2019
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Entwickeln leere Räume ein Eigenleben, wenn sie sich selbst und „der Kunst“ überlassen werden? Und wie würde Stuttgart aussehen, wenn Autoindustrie und Konzernmogule der Stadt den Rücken kehrten? Diesen Fragen ging das Citizen.Kane.Kollektiv mit dem Mikro-Theater „Die Stille der Stadt“ nach und kreierte in einem Abrissgebäude im Stuttgarter Osten ein spannendes Mash-up aus Installationen, Performances und Austauschplattform, das sich sowohl inhaltlich als auch szenografisch fernab der ausgetretenen Pfade bewegte. Wie genau das aussah, haben wir uns von PLOT genauer angeschaut …

 

von Julia Ihls

 

Die grauen, heruntergekommenen Hausfassaden und das hintergründige Brummen der allgegenwärtigen Fahrzeuge auf der Hauptstraße eröffnen bereits das Präludium der Inszenierung. Verlassen sieht es aus, das leerstehende Gebäude in der Rotenbergstraße 170 beim alten Schlachthof – ein trauriger Zeuge vergangener Zeiten. Wo früher noch ein Asiamarkt, Mietwohnungen und eine Weinstube die Räume mit Leben füllten, herrscht nun bedrückende Stille. Stille, Leerstelle und Leerstand – welch kreatives Potenzial jene Frakturen und Brüche hervorbringen können, erforschte das Stuttgarter Citizen.Kane.Kollektiv nun über einen Zeitraum von vier Monaten und experimentierte in dem Gebäude, das den Künstlern von der Stadt bis zum Abriss im Sommer 2019 für kreative Interventionen überlassen wurde. Um den Zugang zum Thema möglichst offen und heterogen zu gestalten, wurden die drei Stockwerke mit insgesamt 13 leerstehenden Räumen in den vergangenen Monaten vorerst als experimentelles Labor für Kreative und Publikum genutzt – sei es in Form von öffentlichen Drohnen-Racings oder Ausgrabungen. Die Recherche-Ergebnisse flossen dann mit den eigenen Erkundungen und räumlichen Interpretationen des Kollektivs im Mikro-Theater „Die Stille der Stadt“ zusammen – ein Format, das ursprünglich aus Spanien stammt: In Zeiten der Wirtschaftskrise, in denen kulturelle Fördergelder gestrichen wurden, etablierte sich in Madrid anstelle großer, kostenaufwändiger Inszenierungen jene Form kurzer Performances, die sich die Besucher je nach Geldbeutel und Zeit individuell zusammenstellen können. In Stuttgart wurde dieses ernüchternde theatrale Format nun mit der Dystopie Detroits kombiniert: Die ehemalige Autoindustrie-Stadt in Michigan stellt sozusagen einen realen Blick auf eine mögliche, negative Zukunft des Stuttgarter Kessels dar, verwandelte sie sich doch mit Abwanderung von Industrie und Wirtschaft innerhalb der letzten 50 Jahre in eine kriminelle Geisterstadt.

 

Die Stille der Stadt

So schreiben wir nun also Stuttgart im Jahr 2052: Die Stadtautobahn ist stumm, sie ist nur noch eine Erinnerung an Geschwindigkeit und gesellschaftlichen Aufstieg im Schatten des Gaskessels. Die Häuser stehen leer – verfallen und überwuchert: In diesem Setting betreten die Besucher den Eingang der Rotenbergstraße 170. Gleich zu Beginn werden sie von den, mit archaischen Pelzmänteln gekleideten, Künstlern in Kleingruppen aufgeteilt und in „Die Bar“ im zweiten Stockwerk geleitet. Der Versammlungsraum, in dem das Kollektiv mit Snacks und Getränken aufwartet, stellt den gemeinsamen Beginn- und Endpunkt der Inszenierung dar. Nach einer musikalischen Einstimmung mit elektronisch verzerrten Klängen und Sprechgesang teilt sich das Publikum in die zugewiesenen Gruppen auf. Jede folgt dabei ihrem eigenen Zeitplan, der vorgibt, wann und wo welche Performance zu sehen ist. Dementsprechend geht es auf dem Weg zur ersten Inszenierung durch leere Korridore, vorbei an halboffenen Türen und flackernden Lichtern. In einer großen Halle hängen großformatige Ölgemälde, die Alltagsszenen in kalter Realismus-Manier zeigen, dahinter eine netzartige Rauminstallation. Wie ein Labyrinth fächern sich die Räume auf, mal wartet eine Pilzaufzucht in einer Sauna oder Ausgrabungsfunde hinter der nächsten Ecke, mal die Installation eines verlassenen Zimmers inklusive Bett, Polaroids und Mantel an der Wand. Über all dem hängt die bedrückende Ahnung einer anwesenden Abwesenheit der früheren Bewohner, durchmischt mit gegenwärtiger Leere. Denn obwohl sich mehrere Dutzend Menschen in dem Gebäude bewegen, kommt es aufgrund der separierten Wegführung nur zu wenigen Begegnungen. Gleich den tausend Plateaus nach Deleuze und Guattari entfaltet sich eine plurale Heterogenität, deren Ebenen nebeneinander existieren. Die Erzählungen und Inszenierungen der einzelnen Räume stehen für sich und wurden unabhängig voneinander konzipiert. Und dennoch kreieren deren Wechselwirkungen und Assoziationen untereinander im Vorbeigehen ein Gesamtnarrativ, das sich vielleicht als „nomadische Wissensproduktion“ beschreiben ließe.

 

Von Schwanenknochen und einer gealterten Hure

Dabei wird das Raumerlebnis im Verlauf des Abends von vier Performances rhythmisiert: So versammelt sich die Gruppe im Mikro-Stück „Schwanenknochen“ (Jonas Bolle) im Kreise eines Wohnzimmers um einen Haufen stilisierter Gebeine. Was wäre, wenn die verbliebenen hungernden Stadt-Menschen die Schwäne im Schlossgarten jagten? Würden deren abgenagte Knochen nach tausenden von Jahren gefunden werden und Zeugnis über den Untergang unserer Zivilisation liefern? Die Fragen verschmelzen mit verzerrten, synthetischen Klängen, in welche die Besucher mit ihren „Schwanenknochen-Flöten“ einstimmen. Ähnlich rituell verhält es sich bei der Inszenierung „The Hole“ (Ema Staicut): Nach einer Wanderung durch dunkle Treppenhäuser führt ein Pfad aus Erde zu einer Feuerstelle inmitten einer düsteren Halle. Im Kreis sitzend, lauschen die Besucher im Kerzenschein der Erzählung vom Untergang der Kessel-Stadt sowie der hoffnungsvollen alternativen Lebensweise, die sich daraus entwickelte. In „Gran Turismo“ (Jürgen Kärcher) hingegen kriechen die Zuschauer-Gruppen in eine Einsiedler-Höhle aus goldenen Rettungsdecken. Untermalt von der Autofahrt aus Claude Lelouchs Film „C’était un rendez-vous“ und fernab der gefährlichen Welt „da draußen“ wird hier eine Ode an die Geschwindigkeit präsentiert. Im Keller wiederum erwartet die Besucher in „Die Stadt als Hure“ (Andrea Leonetti) Stuttgart selbst: Auf einem Bett aus Fellen liegt die sterbende Stadt in Person einer gealterten Prostituierten. Unter Husten und Stöhnen schwärmt sie von den goldenen Zeiten, als die Industrie-Freier noch regelmäßig und gierig zu ihr kamen bis sie völlig verbraucht war. Kurz flammt noch einmal ihre Hoffnung auf, ob sich unter den Besuchern nicht vielleicht doch noch ein neuer Interessent befindet, um schließlich desillusioniert und dahinsiechend das Ende zu erwarten.

 

Der Raum als Leerstelle

Wie unterschiedlich die Inszenierungen, Kunstwerke und Installationen jedoch auch sein mögen, so haben sie dennoch einen gemeinsamen Nenner: den verlassenen Raum. Zwar lässt sich kaum bestreiten, dass Räume von jeher Handlungsmacht besitzen, allerdings fällt diese bei Leerstand noch einmal besonders ins Auge. Seien es Kinderzeichnungen an den Wänden oder eine vorinstallierte Bar – Künstler wie Zuschauer begeben sich auf eine Spurensuche, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen. Jene Spuren und unerzählte Geschichten werden so zu räumlichen Akteuren, die dem Horror Vacui (die Angst vor der Leere) eine hoffnungsstiftende Produktivität entgegensetzen. Auf diese Weise fließt das räumliche Eigenleben nicht nur in den Inhalt des Stücks „Die Stille der Stadt“ mit ein, sondern aktiviert auch die Besucher. Denn wie bereits in der Rezeptionsästhetik oder dem Konzept der Unbestimmtheitsstelle von Roman Ingarden beschrieben, erscheint die Leerstelle als Ort der Sinnstiftung, an dem der Rezipient selbst neue Beziehungen herstellen muss. So werden die Besucher trotz der düsteren Stimmung, die das Theaterkollektiv mit den Mikro-Inszenierungen heraufbeschwört, nicht hoffnungslos zurückgelassen: „Wir sind da, um euch zu beruhigen.“ Mit diesen Worten beschließen die Künstler die Aufführung. Utopie und Dystopie – beides sind nichts als positive oder negative Übersteigerungen einer Realität, die sich noch im Kommen befindet und die sich nie ganz verwirklichen kann. „Die Stille der Stadt“ verharrt entsprechend in einem Zustand irgendwo dazwischen, der sich vielleicht als „konkrete Utopie“ (Ernst Bloch) bezeichnen ließe – eine geprüfte Hoffnung, ein Optimismus mit Trauerflor. So entstand in der Rotenbergstraße 170 ein temporäres Experimental-Labor, das in einem dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis die Zukunft erkundet. Wir sind da, um euch zu beruhigen!

PS: Für alle, die dieses Experiment verpasst haben, gibt es Hoffnung: Die mikro-theatralen Plateaus werden in den nächsten Monaten zu einer einheitlichen Plattform gebündelt: „WRACKSTADT“ ist für Sommer 2019 geplant. Wir dürfen also gespannt sein!

FACTS

Projekt:

Die Stille der Stadt, Stuttgart

Gestaltung:

Citizen.Kane.Kollektiv, Stuttgart (DE) > citizenkane.de

Standort:

Rotenbergstraße 170, Stuttgart (DE)

Zeitrahmen:

Oktober 2018 – Januar 2019

Fotos:

Leo Mandl, Stuttgart (DE)