INSZENIERUNGEN IM RAUM AUSSTELLUNGSGESTALTUNG MARKENWELTEN FILM- & BÜHNENARCHITEKTUR NEUE WELTEN
Submit a PLOT
PLOT
GO

Interviews

TACTILE STUDIO ÜBER „DESIGN FOR ALL“, INKLUSIVE MUSEUMSARBEIT UND EIN NEUES BEWUSSTSEIN FÜR „DIE ANDEREN“

POSTED 19.09.2018
PICTURE
PICTURE 1
 
PICTURE 2
 
PICTURE 3
 
PICTURE 4
 
PICTURE 5
 
PICTURE 6
 
PICTURE 7
 
PICTURE 8
 
PICTURE 9

„Was den Mehrwert angeht, müssen wir uns zuerst auf die aktuellen Forschungen in der Psychologie beziehen, die sich alle in einem Punkt einig sind: Je mehr Sinne bei einem Besuchserlebnis involviert sind, desto mehr wird das Erinnerungsvermögen positiv beeinflusst.“

 

Der Louvre Abu Dhabi (LAD) gilt als eines der ambitioniertesten Museumsprojekte unserer Zeit – allein eine von insgesamt 1,5 Milliarden Euro bezahlt die Stadt Abu Dhabi für den Namen „Louvre“ sowie kulturelle Leihgaben. Bei der Eröffnung am 11. November 2017 zeigte sich bereits der Anspruch, auch im Bereich der inklusiven Wissensvermittlung auf der arabischen Halbinsel neue Maßstäbe zu setzen. Den Zuschlag für die Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden Tastrundgangs für das museale Leuchtturmprojekt erhielt Tactile Studio. „Das internationale Vorzeigeprojekt ist ein wichtiger Meilenstein für unser Unternehmen. Wir wollen dort präsent sein, wo Inklusion im Kulturbereich stattfindet – und das global gedacht“, bekräftigt Philippe Moreau, Geschäftsführer des Pariser Büros. PLOT hat mit ihm und Alexandra Verdeil, Gesellschaftsführerin von Tactile Studio Berlin, über körperliche und kulturelle Barrierefreiheit sowie das Brückenschlagen in der Gestaltung gesprochen.

 

Die Fragen stellte Lena Meyerhoff.

 

Philippe Moreau und Alexandra Verdeil, mit Eurer Ausstellung für den Louvre Abu Dhabi erweitert Ihr Eure weltweite Tätigkeit um ein neues Projekt. Große Namen auf Eurer Liste sind bereits der Louvre in Paris, das Musée d’Orsay, die Fondation Louis Vuitton oder jüngst das Deutsche Museum. Was unterscheidet das aktuelle Projekt von den vorherigen?

Auch wenn wir daran gewöhnt sind, für die Einrichtung von neuen Ausstellungen mit nationalen Museen zu arbeiten, hat unsere Zusammenarbeit mit dem Louvre Abu Dhabi unsere üblichen Standards und Arbeitsweisen in den Schatten gestellt: Zuerst geht es um ein riesiges Projekt mit dem Anspruch einer spektakulären Architektur, das von vielen Akteuren unterstützt wurde: der Louvre Abu Dhabi selbst, die Agentur France Muséum, Berater für Barrierefreiheit und Inklusion sowie das Atelier Jean Nouvel. Daher sollten wir uns mit vielen Ansprechpartnern austauschen und zusammenarbeiten, die unterschiedliche Kulturen und abweichende Absichten und Erwartungen hatten. Wir sollten uns entsprechend der globalen Ästhetik des Museums tiefgründig mit pädagogischen Inhalten auseinandersetzen. Und in Bezug auf die Gestaltung sollte unser Stil im Grafikuniversum des Louvre, das heißt in einem eleganten Klassizismus, umgesetzt werden. Es handelte sich somit um ein „Mehr-Projekt“: mehr Qualität, mehr Anforderungen, mehr Vielfalt von Kunstwerken, et cetera – und auch mehr Schnelligkeit, denn wir hatten lediglich vier Monate Zeit, um die ganze Konzeption sowie die Fertigung der taktilen Stationen zu realisieren!

 

Welche Unterschiede gibt es im Hinblick auf die Kulturen eines westlich oder östlich geprägten Publikums?

PM: Das Projekt ist dreisprachig: Arabisch, Englisch und Französisch. Der Unterschied der Leserichtung zwischen den lokalen und den westlichen Besuchern ist natürlich bekannt, stellte aber eine große Herausforderung für die Gestaltung einer inklusiven Station dar: Wir wurden verschiedentlich mit dieser Frage konfrontiert, da wir verständliche taktile Elemente strukturieren mussten, die einige Besucher von links nach rechts entdecken werden und andere Besucher von rechts nach links. Außerdem waren wir vom Erfolg unserer Stationen positiv überrascht: Im Westen agiert der ruhige Museumsbesucher in unserer Vorstellung nach der Prämisse „Finger weg!“ – es wird mit den Augen geschaut und nichts angefasst. Auf der arabischen Halbinsel sieht das Besuchererlebnis viel spontaner und befreiter aus.

 

Im Bereich der modernen Epoche können Besucher des LAD unter anderem das Gemälde „Komposition mit Blau, Rot, Gelb und Schwarz“ von Piet Mondrian (1872–1944) als taktiles Reliefbild ertasten. Welche Unterschiede seht Ihr in der Übersetzung von klassischer und moderner Kunst?

PM: In der Tat ist eine taktile Retranskription eines „klassischen“ Kunstwerks schon ein komplexes Objekt für die sehbehinderten Besucher: Sie müssen versuchen, eine von sehenden Menschen – für Sehende – realisierte Darstellung zu begreifen und zu verstehen. Im persönlichen Bezugssystem eines sehbehinderten Besuchers ist diese Darstellung wie eine „Lüge“: Es ist das Ergebnis einer grafischen Gestaltung in zwei Dimensionen eines realen Universums – ob Gemälde oder Foto –, das eigentlich dreidimensional ist und von allen Menschen in drei Dimensionen erfasst wird.

AV: So kann zum Beispiel der Begriff der „Perspektive“ für einen Blindgeborenen schwer verstanden werden, weil dieses Darstellungsformat von Sehenden für Sehende erfunden wurde. Wenn wir Tests mit sehbehinderten Nutzern durchführen, ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Figur im Hintergrund des Tastbilds kleiner als in der Realität verstanden wird. In der Tat ist das sehr logisch: In ihrer Vorstellung der Welt ändert sich die Größe eines Objekts nicht, wenn es sich entfernt. Aus diesem Grund sind die Audio-Begleitungen eine nötige Unterstützung, um solche Konzepte und Darstellungen zu erklären. In diesem Zusammenhang ist ein Kunstwerk von Mondrian taktil einfacher zu entdecken, da es keine perspektivische Wirkung enthält: Großflächige Farben können einfach mit taktilen Textur- und Struktureffekten dargestellt werden.

 

Eure besondere Expertise liegt in der Konzeption von taktilen Bildern und Objekten. Das „Universal Design“ ist jedoch eine grundlegende Haltung – welche Gestaltungsbereiche beinhaltet diese noch?

AV: Wir beschreiben uns als eine Agentur des „Designs for all“. Da die Sehbehinderten die am weitesten entfernten Museumsbesucher sind, fokussiert sich unsere Arbeit in erster Linie auf ihre Bedürfnisse und somit auf Tastmodelle, -objekte und -bilder sowie Brailleschrift. Bei der Konzeption einer inklusiven Taststation berücksichtigen wir jedoch alle Besucher und alle Bedürfnisse, Einschränkungen und jedwede Behinderungen des Museumspublikums. Es stellt sich heraus, dass die Berücksichtigung von den Prinzipien der „Gestaltung für Alle“ dazu führt, dass die erstellten Objekte – oder in unserem Fall die konzipierten pädagogischen Inhalte – klarer, verständlicher und lesbarer für alle sind. Diese Akkumulation von positiven Auswirkungen überrascht mich auch heute noch immer wieder aufs Neue! Zum Beispiel führt eine größere Schriftgröße für Sehbehinderte auch zu einem klareren und effizienteren Ausdruck. Daher wird das Verständnis der Thematik einem weiteren Publikum zugänglich: Auch die Besucher, die sprachliche Schwierigkeiten haben, haben größere Chancen, diese Inhalte zu verstehen.

 

Im Museum heißt es oftmals immer noch: „Bitte nicht anfassen!“. Inwieweit können Ausstellungsmacher durch den Einbezug des taktilen Sinns beziehungsweise weiterer Elemente einen Mehrwert für die Besucher generieren? Welche Vorteile bieten die zusätzlichen audiovisuellen und olfaktorischen Begleitungen Eurer haptischen Exponate?

PM: „Bitte nicht anfassen!“ – dieser Ausspruch begegnet uns überall, und übrigens nicht nur im Museum! Jeden Tag hören Kinder, dass sie ihre Hände bei sich behalten müssen – sowohl in einem Geschäft, in einem Museum als auch im Freien beim Spielen. Deswegen ist es für uns umso spannender, die einzigen Objekte des Museums zu realisieren, die angefasst werden DÜRFEN! Was den Mehrwert angeht, müssen wir uns zu allererst auf die aktuellen Forschungen in der Psychologie beziehen, die sich alle in einem Punkt einig sind: Je mehr Sinne bei einem Besuchserlebnis involviert sind, desto mehr wird das Erinnerungsvermögen positiv beeinflusst. Wenn wir einen Text lesen, wie zum Beispiel eine informative Beschilderung im Museum, erinnern wir uns nur an 10 Prozent des Inhalts. Wenn wir dem gleichen Text als Audiomaterial zuhören, erinnern wir uns an 20 Prozent. Und wenn wir diesen Text gleichzeitig lesen und hören, bleiben 50 Prozent des Inhalts in unserem Gedächtnis! Ein anderes Experiment mit Kindern zeigt auch, wie wertvoll das Anfassen und die Nutzung von mehreren Sinnen sind: Während eine erste Gruppe von Kindern das Alphabet visuell lernte, sollte die zweite Gruppe das Alphabet anhand von Buchstaben im Relief lernen. Daraus hat sich ergeben, dass der durchschnittliche Erinnerungswert in der zweiten Gruppe 60 Prozent höher war als in der ersten. Eine Ausstellung mit allen Sinnen ist also die Garantie eines höheren Erinnerungswerts!

AV: Wenn ein Museum multisensorische Stationen zur Verfügung stellt, erhöhen sich konsequent der emotionale Wert und der spielerische Aspekt des Ausstellungsbesuchs, was das Museumserlebnis der Besucher prägend und erinnerbar macht. Die Taststation zum Thema Bisamapfel – ein kugelförmiges Schmuckstück von Frauen des Mittelalters, in dem Duftstoffe aufbewahrt wurden – im Internationalen Museum der Parfümerie in Grasse ist der pädagogische Beweis, dass multisensorische Dispositive eine qualitativere Vermittlung erlauben: Die Taststation samt 3D-Modell des Objekts ermöglicht gleichzeitig sowohl die Vermittlung über den Behälter, als auch über den Inhalt – dank einer taktilen Vergrößerung von Objektteilen unter Zufügung von einem olfaktorischen System im Inneren.

 

In den letzten Jahren wurde ein besonderes Augenmerk auf die bauliche Barrierefreiheit von Museen gelegt – wobei viele neue Ausstellungen und ganze Häuser nach Vorgaben entstanden sind, die eine gleichwertige Nutzung der Räume für alle ermöglicht. Sind diese als Nischenprojekte zu bewerten oder ist eine inklusive Denkweise bereits in unserer gestalterischen Mitte angekommen?

PM: Tatsächlich ist die barrierefreie Zugänglichkeit der Gebäude in Europa eine wichtige und notwendige Anforderung geworden. Insbesondere in Museen und öffentlichen kulturellen Orten sind die barrierefreien Normen zu beachten, und das finden wir natürlich sehr schön. Es ist dennoch schade, dass der Zugang zu den „Inhalten“ leider vor Ort oft vergessen wird: Wozu dient den Besuchern eine barrierefreie Infrastruktur, wenn sie fast nichts im Ausstellungsraum verstehen können? Bei behinderten Besuchern führt es zudem zu einer großen Frustration, wenn es keine Inhalte zum Hören, Anfassen oder Sehen gibt.

AV: Wir merken aber mehr und mehr, dass sich die Mentalität bezüglich Inklusion positiv entwickelt. Unsere Hoffnung – und auch unsere alltägliche Arbeit – ist, dass dieses Vermittlungsverfahren zum Reflex wird. Wir versuchen, zu diesem Wandel so gut wir können jeden Tag beizutragen. Die inklusive Gestaltung stellt eigentlich keine Beschränkung dar, sondern vielmehr eine große Stärke, die Ausstellungen und kulturelle Orte verständlicher und wertvoller für alle macht. Wir freuen uns, zu sehen, dass Inklusion im deutschen Kulturbereich mehr und mehr zu den „Must-Haves“ zählt.

 

Was wird benötigt – abgesehen von den gestalterischen und kuratorischen Fähigkeiten –, um eine gelungene inklusive Darstellung zu erarbeiten?

PM: Wir können es mit den Anforderungen und Beschränkungen von Industriedesignern vergleichen, die Kosten, Materialien und Haltbarkeit berücksichtigen müssen, wenn sie ein Wunschobjekt konzipieren. Neben all den technischen Anforderungen müssen wir in unseren Projekten Kompromisse zwischen allen Erwartungen von den Projektakteuren finden: Die Wünsche der Kulturvermittler, der Konservatoren und der Ausstellungsgestalter sind manchmal unterschiedlich, komplex und teilweise auch widersprüchlich. Wir würden ein erfolgreiches Projekt als einen harmonischen Kommunikations- und Entscheidungsprozess zwischen allen Teilnehmern beschreiben. Deswegen müssen wir alle voneinander lernen und in einem Mindset des Co-Designs zusammenarbeiten.

 

Eure Vorgehensweise beim Nachbilden von Skulpturen hat etwas Bildhauerisches. Wie sieht Euer Produktionsablauf hierbei aus?

PM: Total! Dank der Realisierung von Tastskulpturen haben wir viel über die Bildhauerei gelernt. Wir waren übrigens sehr stolz, Reproduktionen von den beeindruckenden Kunstwerken des bekannten französischen Bildhauers Houdon im Musée Fabre in Montpellier erstellen zu dürfen.

AV: Beim Herstellungsverfahren haben wir keine universelle Antwort, da wir verschiedene Techniken für jedes inklusive Tastobjekt nutzen. Die Entscheidung für die taktile Darstellung eines Museumsobjekts hängt dabei immer von der pädagogischen Absicht ab: Für ein Skulptur- oder Architekturmodell brauchen wir zum Beispiel 3D-Scans oder Fotos in hoher Auflösung, mit denen wir eine 3D-Modellierung des Objekts realisieren. Dabei bearbeiten wir die 3D-Modellierungen für ein gutes taktiles Verständnis von den einzelnen Teilen des Objekts. Es handelt sich hierbei nicht um eine reine Vereinfachung, sondern um eine Anpassung, um den Inhalt verständlich für alle zu machen.

PM: Zum Beispiel haben wir die Büste von Marianne – die symbolische Figur der französischen Republik – modelliert, gefertigt und mit Sehbehinderten getestet. Beim Test haben wir bemerkt, dass die Haare und die rote phrygische Mütze verwechselt und nicht so gut erkannt wurden. Dies führte also zu einem falschen Verständnis beim Anfassen. Im Anschluss haben wir dementsprechend die beiden Teile taktil besser voneinander getrennt – auch wenn sie im Original nicht unterscheidbar modelliert wurden! Genau darin besteht unsere Aufgabe: Die taktile Darstellung anpassen, sodass das, was wir bei dem Originalobjekt „sehen“, am besten abgebildet wird. Danach können wir dann das Tastmodell dank verschiedener Herstellungstechniken aus einer Vielfalt von haltbaren Materialen wie Kunstharz, Bronze, Steinharz oder Kunststoff fertigen.

 

Ihr bildet Eure Reproduktionen nicht immer im Maßstab 1:1 ab. Wieso nicht? Verfälscht das nicht die ursprüngliche Wirkung des Exponats?

AV: Das Originalkunstwerk wird gedacht und konzipiert, um gesehen und nicht um angefasst zu werden. Was unsere Arbeit so spannend macht, ist genau die Verwendung von dieser neuen „Perspektive“. Der Blickwinkel ändert sich und ist eher rudimentär, mit seiner ganz eigenen Logik. Wenn wir ein Objekt mit geschlossenen Augen anfassen, bilden wir in unserem Gehirn ein mentales Bild von der ertasteten Fläche. Dieses Bild ist eine abstrakte Vorstellung. Durch das Zusammensetzen aller einzelnen Bilder können wir dann das gesamte Bild rekonstruieren. Eine schwierige Aufgabe, die eine große Konzentration und eine gute Speicherkapazität erfordert! In diesem Sinne ist dieses Verfahren genau das Gegenteil vom Sehen, bei dem wir das Gesamtbild auf einen Blick ergreifen – erst danach werden Sehende auf Details aufmerksam. Dieser Vorgang ist extrem komplex, deswegen müssen wir in manchen Fällen die Bildgröße des Tastmodells verkleinern, sodass es verständlich ist. Würden wir ein Tastbild von einem Quadratmeter Größe in einer Ausstellung zur Verfügung stellen, würde es in der Welt von sehenden Personen einem Puzzle von 50 Teilen entsprechen – kein guter Ausgangspunkt, um das Kunstwerk zu verstehen.

PM: Auch das Thema der Bildverformung beziehungsweise -verzerrung ist ein interessantes. Wir verneinen nicht, dass wir ein anderes oder neues Kunstwerk schaffen, zumindest aber ein pädagogisches Objekt, das bestimmte Elemente des Originalkunstwerks detailliert erklärt und gleichzeitig hervorhebt. Wir machen dies mit hoher Sensibilität in Zusammenarbeit mit den Kunsthistorikern und Museumspädagogen, aber es ist tatsächlich ein „deformiertes“ Objekt – und wir haben keine Angst, das zu sagen!

 

Für das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz (smac) habt Ihr zuletzt eine Station entworfen, die Besucher mit auf eine Reise ins Mittelalter nimmt, hinein in das von Feuer umzingelte Dorf. Hierfür habt Ihr den intensiven Geruch von verbranntem Holz in eine Eurer Riechstationen integriert. Haben sich Gestalter in der Kulturvermittlung bislang zu sehr auf die visuelle Vermittlung konzentriert?

AV: Die Arbeit von Ausstellungsgestaltern besteht seit langem aus Raumgestaltung und grafischen Aufgaben, aber das ist natürlich nicht alles. Mehr und mehr Agenturen haben es sich zum Ziel gesetzt, ein multisensorisches Erlebnis im Museum zu entwickeln, wobei wir uns sehr darüber freuen, unseren Teil dazu beitragen zu können. Es ist notwendig, dass diese Suche nach multisensorischen Erlebnissen von Anfang an auch die Barrierefreiheit und Inklusion des Projekts berücksichtigt, sodass der Museumsinhalt sowohl kurzweilig als auch gleichzeitig allen zugänglich ist. Dies ist unsere aktuelle Herausforderung: Am Anfang der Konzeptionskette mit den kompetenten Akteuren zusammen zu sein, sodass die multisensorischen, inklusiven Stationen als richtige Ausstellungsexponate betrachtet werden und nicht als „zusätzliche Angebote“ für Barrierefreiheit, um die Einrichtung oben drauf inklusiv zu machen.

 

Kann eine taktile Form der Kunst- und Kulturvermittlung sogar besser im Gedächtnis bleiben?

AV: Eine sehr interessante Frage, auf die es keine allgemeingültige Antwort gibt. Ein Sinnesorgan weniger zur Verfügung zu haben bedeutet, dass die kognitiven Fähigkeiten sich stärker auf die anderen Sinne fokussieren. Das heißt, dass die Erinnerung an Momente, die mit den anderen Sinnen erlebt werden, umso intensiver und schärfer ist. Sehbehinderte können sich also an die taktile Form besser als sehende Personen erinnern. Das heißt aber nicht, dass es einfach ist. Das Lernen bei einem blinden Kind zum Beispiel ist sequenziell. Um einen taktilen Anreiz zurückzugeben, braucht es generell eine Speicherung von allen sequenziellen Informationen. Dieser Aspekt zeigt uns, dass wir eine Art „Speicherkapazität der Haptik“ haben – es muss aber auf jeden Fall mit einem Abspeichern des Objekts kombiniert werden: Bei jedem Stimulus wird ein mentales Bild erzeugt, das mit den anderen Teilen des Bilds verbunden wird, um am Ende eine ganzheitliche Vorstellung des taktilen Objekts zu haben. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass jede Person ein haptisches Gedächtnis hat, das aber nicht messbar ist.

 

Inzwischen arbeiten 18 Designer, Modellbauer, Architekten, Grafiker und Techniker unermüdlich an der Vision Eures digitalen Handwerks. In Berlin, in England und in Kanada habt Ihr ebenfalls Büros eröffnet. Was sind Eure Ambitionen für die Zukunft?

PM: Tactile Studio ist seit der Gründung im Jahr 2009 stetig gewachsen – wir blicken auf zahlreiche Experimente und Projekte mit Museen und kulturellen Orten großer Vielfältigkeit in Kunst, Wissenschaft und Freizeit. Aus jedem Projekt haben wir Erfahrungen und wichtige Lehren gezogen, die uns für unsere weitere Arbeit sehr geholfen haben. So haben wir schrittweise erkannt, dass wir über ein ganz neues und einzigartiges Know-how verfügen. Zuerst in Frankreich, dann in Europa und nun auch im Nahen Osten. Es hat uns den Ansporn gegeben, neue Ansätze für Inklusion im Kulturbereich auch in Ländern außerhalb Europas zu entdecken. Heute können wir bestätigen, dass die Kulturvermittlung von Land zu Land sehr unterschiedlich ist – so bleibt es für unser mittlerweile internationales Team jeden Tag spannend, überraschend und herausfordernd!

 

Mit Blick auf die Zukunft: Wird Eurer Arbeitsfeld ein Reproduzierendes bleiben? Oder werden die Rauminstallationen der Zukunft von den Künstlern selbst schon multisensorisch erlebbar gemacht?

PM: Was die Künstler betrifft, können wir dies schwer beantworten. Bei den Museumsfachleuten entwickelt sich aber ein Bewusstsein, sodass unsere Hyperspezialisierung aus unserer Sicht nicht langfristig andauern wird. Jedes Jahr sind wir in Designschulen, in Büros für Ausstellungsgestaltung und Universitäten für Kulturvermittlung eingeladen, um unser Wissen und unsere Erfahrung zu teilen. In der nahen Zukunft werden das „Inclusive Design“ und die Multisensorität wahre Grundvoraussetzungen für die Ausstellungsgestaltung sowie die Digitalisierung von Museumsexponaten und das Besuchermanagement sein. Voraussichtlich wird es aber dieselben Tendenzen wie beim Thema Nachhaltigkeit haben: Vor 20 Jahren noch war das ein ganz neues Thema – aber wer produziert heutzutage noch ein Objekt, ohne an die Auswirkungen auf die Umwelt zu denken? Hoffen wir, dass es auch bei der barrierefreien und inklusiven Gestaltung von Ausstellungen so sein wird!

 

Philippe Moreau und Alexandra Verdeil, vielen Dank für das ausführliche und spannende Gespräch!

 

Zu den Personen

Philippe Moreau, Jahrgang 1973, ist Gründer und Geschäftsführer des Tactile Studio. Nach seinem Master-Abschluss in Management und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris-Dauphine sammelte er erste Erfahrungen als Kurator für Ausstellungen im Bereich der digitalen und zeitgenössischen Kunst. 2004 gründete er seine erste Firma, die sich auf 3D-Druck spezialisierte. Seine Begeisterung für Kulturvermittlung, die auf ein fernes Publikum abzielte, veranlasste ihn 2009 schließlich, das Pariser Tactile Studio zu gründen. Seitdem hat er sich dem „Universal Design“ verschrieben.

Alexandra Verdeil, Jahrgang 1992, ist Gesellschaftsführerin der Berliner Dependance des Tactile Studio. Als Absolventin der Elite-Hochschule ESCP Europe, fungiert sie hier als Spezialistin für soziales Marketing und Projektmanagement. In Deutschland hat sie bereits in der Kulturabteilung eines deutschen Rathauses gearbeitet und war Workcamp-Teilnehmerin mit Gehörlosen und Hörbehinderten in Bayern. Sie ist für die Entwicklung von Tactile Studio in Deutschland seit 2016 verantwortlich und entwickelt hier inklusive Projekte mit deutschen und österreichischen Museen.

 

 

FACTS

Kontakt:

Alexandra Verdeil, Tactile Studio, c/o Coworking the Place, Charlottenstraße, 2, 10969 Berlin (DE) > tactilestudio.de

Fotos:

tactile studio [1,11–19], Paris (FR) > tactilestudio.de
Mohamed Somji, Louvre Abu Dhabi [2–4], Abu Dhabi (AE) > www.louvreabudhabi.ae
Ducks [5–7]
The Huntr [8]
Raymond Burayag [9]