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Film- & Bühnenarchitektur

EL MUNDO – A CLASSICAL MUSIC CONCERT

POSTED 23.09.2016
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Beim Stichwort „klassische Musik“ erscheinen vor dem geistigen Auge meist prächtige Konzertsäle und kuschelige Kammertheater mit Samtvorhängen. Der österreichisch-amerikanische Künstler Rainer Ganahl hat für seine Version des klassischen Konzerts allerdings eine andere Bühne gewählt: „El Mundo“ – ein Discounter in East Harlem, dessen Raum seine ruhmreichen Zeiten offensichtlich schon hinter sich hat …

von Myriam Guedey

Eine blaue LED-Anzeige über der Eingangstür preist die Schnäppchen des Tages an. Drinnen gibt es von allem viel zu viel: billige Kleidung, Glaswaren aus China, Alu-Töpfe, Gummilatschen, gepolsterte Klodeckel. Die Regale biegen sich durch. Aufgerissene Kartons stapeln sich bis unter die Decke, von den Wänden hängen allerlei Gardinen und Duschvorhänge. Kaum vorstellbar, dass es etwas gibt, das es hier nicht gibt: El Mundo, die Welt.

El Mundo ist dabei nicht nur ein Billigmarkt in East Harlem, der typisch für das Sozialviertel Manhattans ist, sondern auch der Name eines Ad-hoc-Projekts des Künstlers Rainer Ganahl, der lange in East Harlem lebte und eines Tages das Schild am Laden entdeckte: „Schließen in 14 Tagen, alles muss raus!“ Ganahl reagierte prompt und kontaktierte eine befreundete Musikerin der Juilliard School, die ihrerseits einige Freunde zusammentrommelte. Keiner der Beteiligten wusste genau, worauf er sich einließ: weder die Musiker, die ihre „Bühne“ am Abend der Aufführung zum ersten Mal sahen, noch die Besitzer und Mitarbeiter des Discounters.

Wobei das Vorhaben auf den ersten Blick sonderbar wirkt: ein klassisches Konzert in einem Billigmarkt. Nur wer genau hinsieht, kann zwischen Leuchtstoffröhren und geschichtetem Kitsch den alten Stuck an Decken und Wänden entdecken. Tatsächlich war dies einmal das Eagle Theater – ein 1927 eröffneter Filmpalast mit 1.294 Sitzen; 1927, als Filmvorführungen noch von Live-Musik und Showeinlagen begleitet wurden. Vom Glanz vergangener Tage ist heute allerdings nichts mehr zu spüren. Seit das Gebäude in den frühen 1980er-Jahren geschlossen wurde, bröckelt der Putz, die Farbe platzt ab und Schimmel breitet sich aus. Die prächtigen Jahre liegen hinter uns, my dear. Alles ist vergänglich.

An einem Mittwochabend nach Ladenschluss ist es schließlich soweit: Im El Mundo – mitten in all dem Chaos – ist ein Ufo gelandet. Hier steht ein großer Konzertflügel, Sänger und Musiker in eleganter Kleidung sind gekommen. Gespielt werden Puccini und Schubert. Die Zuhörer drücken sich zwischen Regalen und Kleiderständern herum, manche von ihnen tragen Pelz und Louis-Vuitton-Tasche, überall Mützen, Mäntel, Schals. Kein Wunder: Es ist der 23. Januar 2013 – einer der kältesten Tage des Jahres, und die lauten Heizlüfter mussten wegen der Musik abgeschaltet werden. Der Kontrast könnte größer nicht sein: Auf der einen Seite die totale visuelle Kakofonie, auf der anderen die konzentrierte Ruhe eines klassischen Konzerts. Allein die Akustik des Raums verrät seine ursprüngliche Funktion. Nach einer Stunde ist alles wieder vorbei, was bleibt, sind die Erinnerung und eine Dokumentation.

Die sogenannte Hochkultur und das Unterprivilegierte – das sind zwei Sphären, die sich nur selten durchdringen. Im El Mundo gehen sie an diesem Abend eine fast magische Verbindung ein, in der sich Vergangenes und Gegenwärtiges berühren. Wie in der Verfilmung von H.G. Wells’ Zeitmaschine, die ihren Protagonisten durch die Epochen beamt und dadurch sichtbar macht, was sonst nur langsam ins Bewusstsein vordringt: die politischen, ökonomischen und kulturellen Wandlungen eines Orts, die immer auch ein Spiegel der herrschenden Machtverhältnisse sind.

Seit der Zwangsräumung des El Mundo steht das Gebäude in der 3rd Avenue nun leer. Was zukünftig damit passieren soll, scheint unklar. Rainer Ganahl hat so seine Vermutung: „Früher oder später wird der alte Bau abgerissen werden, um Eigentumswohnungen Platz zu machen. Die Gentrifizierung ist längst angekommen in East Harlem.“

 

 

FACTS

Projekt:

EL MUNDO – A CLASSICAL MUSIC CONCERT, New York City (US)

Konzeption:

Rainer Ganahl, New York City (US) > www.ganahl.info

Standort:

EL MUNDO, former Eagle Theater, Spanish Harlem, New York City (US)

Musikalisches Programm:

Rachel Koblyakov, New York City (US)

Fotos:

1 MARCHAND MEFFRE, Paris (FR) > www.marchandmeffre.com
2 – 15 Rainer Ganahl, New York City (US) > www.ganahl.info