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Interviews

RUEDI BAUR ÜBER IDENTITÄTSKRISEN UND ORIENTIERUNG IM RAUM

POSTED 01.06.2016
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„Ich versuche Design und Gestaltung zu benutzen, um die Gesellschaft zu verändern.“

 

Um seine konzeptionelle Haltung zu umschreiben, wählte Ruedi Baur in einer 2009 veröffentlichten Publikation die sieben Begriffe Antizipieren, Hinterfragen, Einschreiben, Irritieren, Orientieren, Unterscheiden und Übersetzen. Auch heute ist seine Arbeit in den Bereichen Identifikations- und Orientierungssysteme, Installationen im öffentlichen Raum und Szenografie stark von diesen Vokabeln geprägt. Dabei ist es das Anliegen seines interdisziplinären Ateliers Intégral, Informationen und Zeichen im Raum so aufeinander abzustimmen, dass es den Nutzern möglich wird, Räume, Geschichten und Beziehungen zu begreifen und sich darin zu orientieren. Was dem „Großmeister der Grafik im Raum“ selbst die Orientierung erleichtert, hat er uns im Interview verraten.


Die Fragen stellten Sabine Marinescu und Janina Poesch.

 

Herr Baur, für die europäische Biennale für zeitgenössische Kunst in Zürich – Manifesta 11 – haben Sie gerade das Erscheinungsbild entwickelt. Welche Gedanken stecken hinter Ihrem Konzept?

In diesem Zusammenhang könnten wir gerne länger über das Wort „Erscheinungsbild“ sprechen, denn eigentlich würde ich viel lieber den Begriff „visuelle Sprache“ benutzen. Hierbei geht es um die Koordination verschiedener Erscheinungen, die trotzdem als eine Ganzheit erkennbar bleiben. Und so wird auch in Zürich „das Gesamte“ ein Portrait der Stadt ergeben – immer in Relation zum Thema „Arbeit“ und damit auch indirekt zum Geld. Dieses Jahr wird jeder Auftritt der Manifesta mit einer kleinen sozialen Geschichte begleitet: Die einzelnen visuellen Erzählungen sind kurze Momentaufnahmen aus verschiedenen Zürcher Arbeitswelten – vom Bettler bis zum unverschämt Reichen, vom Hundefriseur bis zum Polizisten. Diese Arbeit begleitet nicht nur die künstlerischen Intentionen der Manifesta 11, in der Summe bilden diese Erzählungen auch eine Hommage an den bekannten Wiener Soziologen Otto Neurath, der versuchte, die Gesellschaft des Frühkapitalismus darzustellen. Wir zeigen nun eine der reichsten Städte der Welt 80 Jahre später – gekennzeichnet durch weniger Arbeiter, mehr Polizisten, mehr Beamte und leider immer noch arme Menschen. Aber die Beziehung zur Arbeit hat sich dabei wesentlich weiterentwickelt: Besonders in einer so reichen Stadt gibt es heutzutage mehr Leute, die aus ihrem Hobby einen Beruf machen konnten. Also wird unsere Frage nun sein, ob es uns mit unseren Kommunikationsmaßnahmen auch gelingt, in Dimensionen zu gelangen, welche die Bürger und Besucher der Kunstausstellung anregen können, über Fragen nachzudenken wie: Was mache ich überhaupt beruflich? Wie viel muss ich für mein Geld arbeiten? Möchte ich noch mehr Geld verdienen, und was wäre ich bereit, dafür zu tun?

 

Unter dem Motto „What People Do For Money: Some Joint Ventures“ stellt der diesjährige Kurator der Manifesta 11 – der Künstler Christian Jankowski – die Frage, welchen Bezug jedes Individuum zu seinem Beruf hat. Was ist Ihr Bezug? Wofür arbeiten Sie?

Ganz klar: Ich versuche Design und Gestaltung zu benutzen, um die Gesellschaft zu verändern. Design transformiert, und ohne Veränderung existiert kein Design. Und genau das treibt mich an. Gewisse Designer oder Künstler verändern Dinge und/oder Zustände für sich selbst und hoffen, dass andere dies dann gut finden. Andere Gestalter, besonders in den Agenturen, verändern etwas für den Kunden und hoffen, dass er zahlt. Ich versuche für den Bürger der Welt zu arbeiten. Ich liebe meinen Beruf, weil er es mir permanent ermöglicht, zu lernen und neue Experimente zu wagen. Der Faktor Geld ist dabei nicht wesentlich. Aber unsere Arbeit muss es uns dennoch ermöglichen, etwa 20 Menschen zu ernähren. Das schaffen wir zum Glück.

 

Was ist das für ein Gefühl, zu wissen, dass Sie das Stadtbild einiger Städte wesentlich beeinflusst und damit auch die Wahrnehmung der hier lebenden Bewohner – also der Gesellschaft – verändert haben? Sind Sie stolz?

Ich denke, da gilt es, bescheiden zu bleiben – schließlich sind auch unsere Ansätze an Veränderungen zurückhaltend. Diese Zurückhaltung ist aber das Spannende: Lässt sich alleine mit einem Bild, einem Zeichen, einer Installation oder einem System die komplette Wahrnehmung ändern, ohne deswegen manipulierend zu sein? Ich denke, wir haben als Informationsgestalter eine extrem wichtige Rolle in einer Gesellschaft, die oft Sichtbarkeit mit Verständlichkeit verwechselt. Die Bürger wollen keine Strategie und Manipulation mehr, kein Branding. Sie möchten nur Zugang zu klaren und ehrlichen Informationen. Und das ist nicht so einfach: Dafür müssen aktuelle Verfahren wie „Branding“ oder auch „Corporate Identity“ tief in Frage gestellt und es muss über Alternativen nachgedacht werden. Die Stadt, die ich liebe, ist plural offen und lebendig. Wie kann so etwas repräsentiert werden? Sicher nicht mit einem Markenzeichen und einem sich immer wieder wiederholenden Slogan. Der Plan einer Stadt sagt viel mehr als ein Stadtbild. Diese Komplexität lesbar zu machen ist spannender, als sie zu einem Markenzeichen zu reduzieren. Wobei diese Komplexität immer noch gesteigert werden kann, zum Beispiel durch Interventionen innerhalb des Systems. In diesem Sinne bin ich natürlich stolz, wenn ich einer Stadt ein zusätzliches Bild bringen und sie mit diesem Ansatz öffnen kann. Nie hätte ich gehofft, dass das Deserteurdenkmal in Köln in einem Stadtführer aufgenommen werden würde. Diese Art der Bestätigung meiner Arbeit bringt mir natürlich Freude. Im Moment arbeiten wir in Paris an neuen U-Bahn-Linien, die zwischen 2022 und 2030 eine neue Sicht auf Paris geben und vielleicht auch das Stadtbild verändern werden. Auch so ein Projekt macht bescheiden – vor allem die Komplexität eines Prozesses, mit dem wir vielleicht dauerhaft Einfluss auf die Bewohner nehmen können.

 

Sie haben Ihr grafisches Handwerk an der Hochschule für Gestaltung in Zürich erlernt. Damals war der Beruf klassischerweise noch im zweidimensionalen Bereich angesiedelt. Wie kam die dritte Dimension dazu? Welche Rolle spielt für Sie die Architektur?

Ich komme aus einer Architekten- und Ingenieur-Familie. Als ich damals angefangen habe, darüber nachzudenken, was für mich beruflich überhaupt in Frage kommen würde, war die Versuchung natürlich groß, einfach genauso weiterzumachen, wie es schon drei Generationen vor mir getan haben. Doch dann kam die Krise von 1974 – eine Krise, unter der wir gesellschaftlich heute noch leiden. Damals war es das erste Mal, dass wir das Wort „Krise“ überhaupt gehört und gemerkt haben, dass es vielleicht doch nicht immer aufwärts geht. Und so gab es im Bereich der Architektur plötzlich nicht mehr so viel Arbeit und ich habe angefangen, mir über Alternativen Gedanken zu machen. Also habe ich nach meiner Matur eine Lehre bei dem Gestalter Michael Baviera absolviert und anschließend in einem Büro gearbeitet, das Grafik, Architektur, Kunst und Design miteinander verband. Hier habe ich gelernt, die verschiedenen Disziplinen in Beziehung und nicht getrennt voneinander zu betrachten. Denn genau an solchen Grenzen wird es ja spannend: an den Grenzen zwischen 2D und 3D, zwischen temporär und permanent, zwischen situiert, kontextuell und reproduziert oder zwischen wiederholt und narrativ. Im Moment suche ich Grenzen oder Überlappungsfelder zwischen Grafik und Film.

 

In der Analysis steht Integral für einen Grenzwert beziehungsweise für die Lösungsfunktion einer Differentialgleichung. Integral ist aber auch ein Gammastrahlen-Teleskop der Europäischen Weltraumorganisation ESA, eine Zugbaureihe und sogar eine spirituelle Weltanschauung. Welche Bedeutung hat Integral für Sie – es handelt sich schließlich auch um den Namen Ihres Ateliers?

Der Name entstand 1989. Uns war da schon wichtig, dass wir interdisziplinär arbeiten und als Gestalter den kompletten Prozess begleiten. Mein damaliger Geschäftspartner war Mathematiker und dementsprechend mit der Integralrechnung vertraut. „Die Gesamtheit, die sich zwischen zwei Punkten befindet“, wäre meine Definition. Schon damals waren wir fasziniert von komplexeren Systemen im Sinne der Abschaffung der reinen Wiederholung, die auch als Propaganda bezeichnet werden kann. Wir verstehen uns aber auch heute noch als Netzwerk mit unterschiedlichen Strukturen und Persönlichkeiten: Architekten, Verleger, Fotografen, Kuratoren, Designer, Ethno-Designer und Grafik-Designer, die alle auf ihre Art und Weise Grenzgänger sind. Wir treffen uns von Zeit zu Zeit, nehmen an Wettbewerben teil, teilen uns Aufträge, sprechen miteinander, sind Freunde und gehen doch jeder seiner eigenen Arbeit nach – mit einer starken Verbindung und einer gemeinsamen Vision: Wir widmen uns der zentralen Frage, wie sich Differenzen zusammenbringen beziehungsweise so darstellen lassen, dass die unterschiedlichen Protagonisten von ihnen profitieren können. Mit unserer Arbeit wollen wir also gedankliche Grenzen einreißen.

 

Sie sind in Frankreich aufgewachsen, haben Ihr Atelier in der Schweiz und realisieren weltweit Projekte. Sie sagen selbst, dass Multisprachigkeit für Sie und vor allem in Ihren Projekten eine große Rolle spielt. Wie lässt sich der typische „Lost in Translation“-Effekt vermeiden?

Geboren bin ich in Paris von zwei Schweizer Eltern, die nicht die gleiche Sprache pflegten. Schon immer habe ich also mit mindestens drei Sprachen gelebt: Meine Mutter sprach mit ihrer Familie Romanisch – eine wunderschöne Sprache, die nur noch von einer kleinen Minderheit benutzt wird. Und mein Vater sprach mit mir Schweizerdeutsch, in der Schule kam dann Französisch hinzu, genauso wie Englisch und Deutsch. Hobbymäßig habe ich Italienisch gelernt, und ich liebe Katalanisch und Okzitanisch – alles wichtige europäische Sprachen: Jede trägt eine Kultur und erklärt die andere. Als Gestalter versuche ich, wo ich kann, diese Multisprachigkeit zu pflegen. Denn unter der Gefahr der Vereinfachung und Konformität, die überall herrschen muss, gewinnt das Plurale zunehmend an Glaubwürdigkeit. „Der Unterschied ist nicht, was uns trennt. Es ist die Basis jeder Relation. Die Schönheit der Welt entsteht aus diesen Unterschieden“, schrieb auch der französische Dichter Édouard Glissant. Ich fühle mich als Bürger der Welt und nicht als Bürger nur einer Nation. Dabei fürchte ich nichts mehr als die Vereinfachung. Sprachen ermöglichen es uns, die Kultur der anderen Länder zu verstehen. Englisch verschafft uns wohl nicht den Zugang zu allen Kulturen, es ermöglicht uns eher, uns auf eine praktische Art auszutauschen – nicht mehr und nicht weniger. Es wäre fatal, wenn Europa auf Englisch gedacht werden würde. Das wäre so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner und gleichzeitig ein kultureller Genozid des Kontinents.

 

Was gibt Ihnen Orientierung im Leben?

Vieles. Mit fünf noch jungen Kindern steht dabei zuerst die Zukunft im Vordergrund: Welche Welt hinterlassen wir der nächsten Generation? Können wir die demokratischen Systeme der Realität unserer Zeit anpassen? Unsere egoistischen Nationen aus dem Unsinn des 19. Jahrhunderts befreien? Ist der Wirtschaftskrieg die richtige Form, um zu mehr Humanismus zu gelangen? Die Welt, Europa, unsere Länder, Städte, Quartiere brauchen dringend eine radikalere Form der Demokratie. Eine Form, in der die Qualität des Lebens aller Menschen wieder die zentrale Rolle spielen würde. In der jeder Bürger richtig informiert wäre, nicht nur über Aktualitäten und Skandale, sondern über das Funktionieren der Institutionen und Unternehmen. In der jeder Bürger auch wirklich entscheiden könnte, nicht nur während der mehrjährigen Maskerade der Wahlen. Dies hoffe ich für die Welt, für Europa, für meine Kinder, für die Menschheit, und dies versuche ich mitzugestalten.

 

Sie kreieren sowohl Visitenkarten als auch multidimensionale Erscheinungsbilder, Leitsysteme und gestalten sogar ganze Stadtteile um. Wo sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Dimensionen der Projekte?

Meine zuvor erwähnten Ziele definieren eine gestalterische Haltung, in die zusätzlich noch Dimensionen wie Ästhetik, Genuss, Humor und Selbsthinterfragung einfließen. Durch Design kann die Qualität der Interaktion zwischen Menschen und Nicht-Menschen wesentlich beeinflusst werden – je nachdem, mit welcher Einstellung diese genannten Dimensionen gestaltet sind. Erst dann geht es um die Spezialisierung: Ich würde nie einen Stadtteil ohne Architekten, Stadtplaner, Lichtplaner, Landschaftsplaner und andere Gestalter konzipieren. An diesem Punkt wird es dann interessant, wie die Kapazitäten transdisziplinär im Team erarbeitet werden. Seit der Gründung von Intégral kultivieren wir diese Arbeitsweise – so kam schließlich auch der Name zustande.

 

Sie sagen, jedes Ihrer Projekte beginnt mit einer „Identitätskrise“. Was kann in derlei Krisen Positives stecken, und wie begleiten Sie den „Genesungsprozess“?

Dieser Begriff wird genutzt, um jenen Zustand zu beschreiben, in dem man nicht mehr weiß, wie man sich darstellen soll. Ich versuche meistens, das gefährliche Wort „Identität“ zu vermeiden. Was wir betreiben, hat viel mehr mit Identifikation und Repräsentation zu tun. Wir versuchen für die jeweilige Institution ein erkennbares Ausdrucksmittel zu schaffen, das sowohl ihr als auch ihren Bedürfnissen entspricht. Ich habe mich sehr intensiv mit Identität auseinandergesetzt und mich mit Philosophen sowie anderen Wissenschaftlern beschäftigt, die diesen Begriff analysierten, besonders seit den 1980er-Jahren, als Rassismus und Nationalismus wieder Zuwachs bekommen haben. Zudem habe ich mich auch mit libanesischen und arabischen Autoren befasst, die sich mit Identitätskonflikten auseinandersetzten. Und das alles beweist nun die Oberflächlichkeit, mit der unsere Disziplin dieses Konzept behandelt. Reale Identitäten können zum Glück nicht einfach so ausgetauscht werden, nur weil sie anders gestaltet sind: Sie sind ja auch nicht automatisch ein anderer Mensch, nur weil Sie mal Weiß tragen. All das basiert auf der Grundlage einer gigantischen Lüge – die Lüge der Bedürfnisse sowie artifiziellen Werte innerhalb des Konsums. Eine „Identitätskrise“ ermöglicht es uns, den Moment zu definieren, in dem existenzielle Fragen wieder erscheinen können: Wer bin ich? Wo liegt effektiv das Problem? Diesen Prozess, den ich auch gerne als Hinterfragen der Frage bezeichne, empfinde ich als wesentlich, um zu den richtigen Antworten zu gelangen.

 

Mit dem 2011 gegründeten Institut Civic City betreiben Sie auch kritische Designforschung. Welche Rolle spielt diese Forschung für Ihre Arbeit?

Mit meiner Frau Vera Baur kultiviere ich seit Jahren diese Tätigkeit: Vor Civic City gab es schon Design2context und davor 2id – das Institut für Interdisziplinäres Design. Ich denke, dass sich unsere Disziplin zu wenig mit der Forschung beschäftigt. Forschen ist nicht Experimentieren. Letzteres leistet hoffentlich jeder Gestalter, Ersteres ist nicht zwingend notwendig, um überhaupt zu gestalten. Es ermöglicht uns aber, Wissen zu generieren, und dieses Wissen gestattet es uns, unsere Disziplin weiterzuentwickeln, was aber auch nur durch kritische Analysen dessen, was wir entwickeln, bewerkstelligt werden kann. Dies gilt eigentlich für jede Disziplin – auch für das Design. Wir arbeiten in einem Bereich, der sich selbst selten in Frage stellt. Design ist aber nicht nur positiv, Design kann auch gefährlich sein und von anderen manipuliert werden. Was die Gesellschaft von Design fordert, entspricht oft nicht dem, was Designer selbst gerne machen möchten. Unser Fachgebiet muss verstanden werden, um zu neuen Ansätzen zu gelangen. Dementsprechend interessiert mich, wie wir unsere Arbeit kritisch reflektieren und in Frage stellen können. Dazu ist es nötig, auch anderen Disziplinen einen Blick über die Schulter zu gewähren. So ist 2005 auch die Publikation „Das Gesetz und seine visuellen Folgen“ entstanden, in der die Schnittstelle zwischen Ästhetik und Gesetz thematisiert wird. Hier haben wir eng mit Fachleuten aus der Rechtswissenschaft, der Politik und dem Design zusammengearbeitet. Es trafen Disziplinen aufeinander, die meist nur sehr pragmatisch miteinander in Berührung kamen, sich dann aber plötzlich zu verstehen begannen. Damit wollen wir den Dialog öffnen und uns die Frage stellen: Wie können wir unsere verschiedenen Disziplinen fusionieren, damit wir für die großen gesellschaftlichen Probleme gewappnet sind? Ein großer Fehler unserer Fachrichtung ist es, dass wir die Dinge beherrschen wollen, zum Beispiel, wenn wir Objekte möglichst perfekt gestalten möchten, aber vergessen, sie in Beziehung mit einem Kontext zu setzen. Auf Basis dieser Forschungshaltung haben wir uns natürlich nicht nur Freunde gemacht: Wir kritisieren, nehmen klare Positionen ein und irritieren damit natürlich auch ein wenig. Was unter anderem leider auch dazu geführt hat, dass unser Forschungsinstitut Design2context an der Zürcher Hochschule der Künste im Dezember 2011 geschlossen wurde.

 

2017 soll die Hamburger Elbphilharmonie nun endlich eröffnet werden, 2007 durfte Intégral das Orientierungssystem und Erscheinungsbild gestalten. Wie gehen Sie damit um, dass zwischen Entwurf und Eröffnung ganze zehn Jahre liegen? Ist Ihr damaliger Ansatz noch zeitgemäß?

Damals dachten wir, dass wir ein Jahr vor der Eröffnung das Erscheinungsbild konzipieren würden. Hätten wir gewusst, dass daraus zehn werden, hätten wir eine andere Strategie gewählt: Wir hätten nicht das Design des Erscheinungsbilds gestaltet, sondern der Entwicklungsprozesse. Wir hätten uns die Frage gestellt, wie sich die einzelnen Elemente erneuern und weiterentwickeln lassen. Das ist jetzt natürlich nicht mehr möglich, und ich habe das Gefühl, dass das Design ein wenig „verbraucht“ ist, noch bevor die Elbphilharmonie eröffnen konnte. Marketing und Werbung haben unterdessen leider auch mehr Wichtigkeit in unserer hyperliberalen Gesellschaft und Kultur gewonnen. So nehmen heute auch Werbeagenturen den Platz der Gestalter in diesem Bereich ein, was sicherlich nicht immer zu gesellschaftlich relevanten kulturellen Aspekten führt. Anders haben wir es bei der Signaletik für die Pariser Métro versucht: Hier haben wir bewusst geplant, dass sich jedes Element permanent verändern kann und soll und sich damit auch der Zeit anpasst. Aktuell befinden wir uns hier in einer spannenden Phase, denn sieben Jahre vor der Eröffnung müssen wir mit den Architekten klären, wo die Informationsträger installiert werden. Was seltsam ist, denn die Drucksachen müssen ja quasi erst zwei Monate vor der Einweihung fertiggestellt sein.

 

Zusammen mit der französischen Journalistin Karelle Ménine haben Sie im belgischen Mons einen zehn Kilometer langen Satz – „La Phrase“ – durch die Straßen der europäischen Kulturhauptstadt 2015 geführt. Die zusammengesetzten poetischen Werke wurden dabei in liebevoller Handarbeit auf Boden, Gebäude und Mauern gemalt. Wie gehen Sie hier mit Gebrauchsspuren um? Sind diese Teil Ihrer Arbeit?

Keiner kann Dir vorher sagen, wie sich ein Projekt entwickeln wird. Mittlerweile haben wir mit Gebrauchsspuren aber ein wenig Erfahrung sammeln können. In Mons hatten wir anfangs Angst, denn an den ersten Tagen wurden hier Teile unserer Realisation zerstört, und wir mussten jeden Tag Meter um Meter erneuern. So langsam haben sich aber alle mit dem Kunstwerk arrangiert. Ich denke, das hat sicher mit dem Austausch der Bewohner untereinander zu tun. In solchen Städten sind die Menschen oft alleine, haben selten Beziehungen zu ihren Nachbarn – geschweige denn zum Bürgermeister. Das hat sich nun geändert: An Abenden, an denen wir Hausbesitzer und Mieter zusammengebracht und sie zum Gespräch gebeten haben, wurden wir mit Dank überhäuft. Wir haben oft gehört, wir seien seit 20 Jahren die ersten, die sich mit den Bewohnern beschäftigen und nicht nur kommen, um Geld zu kassieren, sondern etwas erreichen und verändern wollen. Darum plädiere ich so stark dafür, Unnötiges dringend in unsere Städte einzufügen, denn genau das macht den Austausch erst möglich.

 

Funktionieren derartige Konzepte in kleinen Städten denn besser als in großen Metropolen?

Ich denke, zurzeit sind Kleinstädte von der Krise mehr „verletzt“ worden als die Großstädte: In Metropolen ist die wirtschaftliche Lage oft nicht so prekär, und die Jugend wandert nicht ab, weil sie eine gute Perspektive hat. Sozial gesehen, sind die Kleinstädte also viel schlimmer dran. Aber genau hier liegt ja auch das Potenzial, denn in Krisenherden ist die Chance größer, wirklich etwas verändern zu können. Wenn die Bewohner sich wohlfühlen, haben sie nicht das Bedürfnis nach Veränderung.#

 

Das sind dann die städtischen Identitätskrisen?

Ja, absolut! Für einen kurzen Zeitraum können wir diese Krisen bewältigen und mit unseren Eingriffen zu kleinen Veränderungen beitragen. Unser Ziel ist es dabei, so lange wie möglich positiv in Erinnerung zu bleiben. Aber wir versuchen am Anfang eines Vorhabens auch so ehrlich zu sein und zu sagen, dass das Projekt nur einen begrenzten Zeitraum andauern wird und nicht länger, damit keine falschen Erwartungen entstehen.

 

Zum Schluss würden wir Ihnen gerne noch eine allgemeine Frage stellen: Was würden Sie den Akteuren unserer Branche mit auf den Weg geben?

Ich bin der Meinung, die Epoche der gigantischen Inszenierungen ist vorbei. Der Druck der Politik wird immer größer, Autoritarismus und Ängste sind spürbar, und wir arbeiten in keiner einfachen Zeit – das ist ganz klar. Dementsprechend sollten wir als Gestalter radikal bleiben, Experimente entwickeln, die Politiker nicht wagen, neue Visionen mit den Bürgern konzipieren und uns unbedingt mit der Beziehung zu neuen Technologien beschäftigen, die uns heute und in Zukunft umgeben. Wenn wir diese Rolle als Advokaten der Bürger in der Gesellschaft nicht erfüllen, steuern wir in die Katastrophe. Gerade in den aktuellen Zeiten, in denen neue und extreme Ängste geschürt werden, müssen wir den Menschen, die desorientiert sind, helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. So machen wir die Welt Stück für Stück zu einem besseren Ort. Ich finde es spannend, was wir als Gestalter alles erreichen können, wenn wir es nur wollen …


Ruedi Baur, vielen Dank für das offene Gespräch!

 

Zur Person

Ruedi Baur, Jahrgang 1956, lernte den Beruf des Grafikers an der Schule für Gestaltung in Zürich. Nachdem er 1983 in Lyon das Atelier Bbv gründete, wurde er 1989 Mitbegründer des interdisziplinären Netzwerks Intégral Concept und leitet seither die Ateliers Intégral Ruedi Baur Paris/Zürich sowie das Laboratoire Irb. Seit 1987 übernimmt er regelmäßig Lehraufgaben: Von 1989 bis 1996 koordinierte er in Lyon den Fachbereich Design an der École des Beaux-Arts, 1995 wurde er Professor in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, deren Rektor er von 1997 bis 2000 war. Und 2004 gründete er das Forschungsinstitut Design2context an der Zürcher Hochschule der Künste, das er zusammen mit Vera Baur und Clemens Bellut leitete, bis es 2011 geschlossen und vom kritischen Forschungsinstitut und Netzwerk Civic City in Genf abgelöst wurde.

FACTS

Kontakt:

Ruedi Baur, Paris (FR) > www.ruedi-baur.eu

INTÉGRAL RUEDI BAUR PARIS, Paris (FR) > www.irb-paris.eu

INTÉGRAL RUEDI BAUR ZÜRICH, Zürich (CH) > www.irb-zurich.eu

Fotos:

INTÉGRAL RUEDI BAUR PARIS, Paris (FR) > www.irb-paris.eu
Gautier Houba, Brüssel (BE)