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Interviews

Nils Wiberg über die Formbarkeit der Interaktionsgestaltung im musealen Kontext

POSTED 22.04.2016
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„Wir glauben, wenn jeder schreit und Sie flüstern, werden Sie gehört.“

 

1961 erreichte Juri Gagarin Berühmtheit, in dem er als sowjetischer Kosmonaut der erste Mensch im Weltraum war. In der Szenografie-Szene macht sich nun eine kleine Medienagentur bemerkbar, die als Hommage seinen Namen trägt: Gagarin. Als Gewinner des European Design Award 2015 und jüngst des German Design Award 2016 für das Wild Reindeer Museum in Norwegen sowie das Canadian Museum for Human Rights etabliert sich das kleine Team aus Reykjavik. Dabei betrachten sie ihre Arbeit selbst als „digital sculpting“. Anlässlich des Vortrags, den Kristin Olafsdottír und Nils Wiberg, Art-Direktor und Interaktionsgestalter, im Februar 2016 im ATELIER BRÜCKNER über ihre Arbeit hielten, konnten wir die Chance nutzen, sie anschließend zu interviewen. 


Die Fragen stellte Elisa Eichner.

 

Nils, im Vortrag bezeichnet Ihr Eure Arbeit als „digital sculpting“ – digitale Bildhauerei. Wie lässt sich Interaktionsgestaltung in Bezug auf diese Kunstform erklären?

Es ist eigentlich eine Idee, die aus dem Buch von Andrej Tarkowskij herrührt: „Sculpting in time“ (Anm. der Red.: zu deutsch: „Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films“). In dieser Publikation versucht er zu erklären, was das Kino-Handwerk für ihn bedeutet. Ich fragte mich, wenn das Kino seiner Meinung nach eine Art Formvariable der Zeit ist, was ist dann das formbare Material des Interaktionsdesigns? Bis heute eine unbeantwortete Frage …

 

Welcher formbaren Mittel bedient sich Gagarin?

Natürlich ist es unser Ziel, so viel Poesie wie möglich in diese Erfahrung einfließen zu lassen. Wir finden derzeit eine Menge Inspiration in der Literatur und der Bildenden Kunst, in der Konzepte ständig in Raum und Sprache übersetzt werden. Und wir übersetzen sie in Zeit und Interaktivität.

 

Was bedeutet dies für die Formbarkeit von Interaktionsgestaltung?

In der Filmindustrie dauerte es einige Jahrzehnte, eine allgemeingültige Grammatik zu entwickeln, um Geschichten auf der Leinwand zu erzählen. Inzwischen sind die interaktiven Medien mehr als 20 Jahre alt und ihre allgemeingültige „Sprache“ steckt immer noch in den Kinderschuhen – das ist es, was wir mit Formbarkeit in der Digitalität meinen. In Bezug darauf, was wir tun, sind wir mit der Arbeit Tarkowskijs vergleichbar. Er gestaltete Filme mit einer poetischen Bildsprache, während seine Kollegen D.W. Griffith und – um eine deutsche Referenz zu nennen – F.W. Murnau grotesk verzerrte und kontrastreich beleuchtete Filmbühnen schufen. Deutsche Expressionisten erkannten früh die Regeln der filmischen Grammatik, die in Amerika entwickelt wurde, und hatten es geschafft, sie gekonnt zu brechen, um etwas Neues zu kreieren.

 

Was ist der jetzige Stand dieser noch formbaren Entwicklung?

Bisher wird die Grammatik für die digitale Welt so zweckorientiert genutzt, wie sie entstanden ist. Es ist vergleichbar mit der Anschaffung eines Hundes, um sein eigenes Herz-Kreislauf-System zu verbessern: Digitale Ströme, die durch die Massen an Menschen verursacht werden, verfolgen nicht unbedingt das Ziel, deren Bedürfnisse erfüllen zu wollen, sondern überspringen das quasi „über deren Daumen“ hinweg, um an der Oberfläche sichtbar zu bleiben – wie Kieselsteine, die über Wasser geworfen werden: Nutzer liken symbolträchtig mit einem Daumen Inhalte (und benutzen dafür auch nur diesen) oder verlinken sie, so bleiben sie im Umlauf. Die Verteilung wird von Computern und Algorithmen generiert, daher werden entsprechende Inhalte nicht notwendigerweise auf den Menschen abgestimmt, auch wenn diese ursprünglich von ihm stammen. Posts werden mit maschineller Geschwindigkeit sortiert, verbreitet und transformieren die Nutzer selbst in Maschinen: in Like-Maschinen wie vom Fließband.

 

Im Hinblick auf diese Angewohnheit: Wie gestaltet Ihr im Gegenzug?

Wir versuchen es anders anzugehen: Unserer Meinung nach, kreieren wir profunde Erfahrungen, die sich auf die Reflexion der Besucher und die Plausibilität des Inhalts stützen.

 

Wie können wir uns das vorstellen?

Im Hinblick auf die Wechselwirkungen, die wir mit dem Inhalt erstellen, versuchen wir immer eine grundlegende, metaphorische Kontinuität zu haben. Für die Interaktionsgestaltung eines kulturellen Erbes – oder jede andere museale Erfahrung – ist es optimal, dass wir, bevor wir als Gestalter unsere Interpretation „verräumlichen“ und damit äußern, den Themen eine interaktive Metapher geben, die übergeordnet für die gesamte Erfahrung steht. Auf die gleiche Weise wie die visuelle Ästhetik Hand in Hand mit dem Thema geht, muss es die formale Ästhetik gleich tun.

 

Das klingt theoretisch einleuchtend, aber wie setzt Ihr das in einer Ausstellungsumgebung um?

Als wir zum Beispiel eine Medienstation für das Sea Monster Museum in Bíldudalur im Norden von Island entwarfen war es wichtig, die Interaktion auf die gesamte Erzählung des Museums anzupassen. Das Konzept beinhaltete, in einem Zeitkapsel-Forschungszentrum über die kryptozoologischen Vergangenheit der Seeungeheuer aus den isländischen Westfjorden zu berichten. Es sollte so aussehen, als ob die Zeit um die Wende des 20. Jahrhunderts eingefroren wurde, um jetzt wiederentdeckt und ausgestellt zu werden. Die Erzählung fand dann auf einer Art Meta-Ebene der Anthropologie statt. Uns schien eine futuristische oder auch moderne Schnittstelle in einem solchen Kontext sehr anachronistisch, also passten wir stattdessen die Ästhetik der Interaktion der mechanistischen Ideale der Zeit an und erweiterten sie mit der Kraft der Pixel.
Auch als wir gebeten wurden, ein Konzept rund um Elektrizität in einem Ausstellungskontext zu erklären (Anm. der Red.: Ausstellung „Powering the future„, Ljósafoss, Island) wählten wir als Mittel der Interaktion die menschliche Kraft: Mit einer einführenden Installation aus einer halbtransparenten Betonwand, die einen großen Bildschirm in sich eingebettet hatte, wurden die Besucher aufgefordert, Druck auf die Wand auszuüben. Visuell wurde die aufgewendete Kraft kommuniziert und stellte damit die übergeordnete Metapher der Ausstellung dar. Denn nun war es leicht, alle weiteren Formen der Energie – die durch die Ausübung des Kraftakts der Besucher schon übermittelt wurde – wie Leistung, Arbeit, Energie und Strom – weiter zu erläutern. Die Besucher waren in ihren Bewegungen frei, konnten anschließend die Informationen aus der Ausstellung intuitiv heben oder pumpen.

 

Was wird Gagarins roter Faden für die Zukunft sein?

Wir wollen in Zukunft Räume schaffen für poetische, ruhige und reflektierende intellektuelle Diskurse in einer zunehmend rasanten, algorithmisierten und irgendwie ängstlichen Welt. Wir glauben, wenn jeder schreit und Sie flüstern, werden Sie gehört.


Nils Wiberg, vielen Dank für das Gespräch.

 

Zur Person

Dass der schwedischstämmige Interaktionsgestalter Nils Wiberg ein umfassendes Interesse für Bildende Künste, Film und Literatur hegt, beweist auch sein Lebenslauf: Zwischen 2001 und 2009 hat er in Schweden die Universitäten in Lund, Linköping und Umeå und in Reykjavik die Island Universität besucht und dabei jeweils Fächer in Design, Film, Literatur, Philosophie und Ausstellungsgestaltung belegt. Schließlich hat er seine studentische Laufbahn mit zwei Master-Abschlüssen absolviert: in Cognitive Science an der Linköping Universität 2008 und in Human Computer Interaction an der Umeå Universität im Jahr 2009. Letzteres geschah schon in Zusammenarbeit mit Gagarin, wo er seit seinem Abschluss arbeitet.

FACTS

Kontakt:

Gagarin, Reykjavík (IS) > gagarin.is

Fotos:

Nils Wiberg, Reykjavík (IS) > gagarin.is