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Neue Welten

Costruzioni del Corpo

POSTED 14.09.2017
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„Wir versuchen das Altern und die natürlichen körperlichen Veränderungen zu überwinden. Wir möchten nicht altern, nicht krank werden und wir wollen nicht sterben. Um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, verändern wir dann unsere äußere Hülle.“ Mit ihrer transhumanistischen Rauminstallation „Costruzioni del corpo“ (in etwa „Körper-Baukasten“) beschäftigt sich die Künstlerin Valeria Abendroth im Rahmen der documenta14 mit der Frage nach der Entwicklung des menschlichen Körpers: Welche Materialien werden den biologischen Körper ersetzen? Wie werden wir später einmal aussehen? Und: Werden wir die traditionelle Konzeption des Menschen neu überdenken müssen? Dabei gibt sie keine konkreten Antworten, sondern gestaltet vielmehr eine Wunderkammer, die Mensch und Maschine in einem surrealen Rollentausch inszeniert.

 

von Lena Meyerhoff

 

Es ist Samstagnachmittag, Passanten laufen die Kassler Königsstraße entlang, viele von ihnen vertieft in die großen Übersichtskarten. Für die documenta14 verzeichneten die Organisatoren der Veranstaltung schon zur Halbzeit Besucherrekorde, welche die 200.000-Einwohner-Stadt kaum verstecken kann: Lange Schlangen bilden sich vor den Museen, und rund um die Freilichtinstallationen scharen sich Kunsttouristen und machen Fotos. Auf Höhe des Friedrichsplatzes auf der oberen Königsstraße vermischen sich Interessierte mit Wochenendeinkäufern – es ist voll. Vor einem Schaufenster des Kaufhauses Galeria Kaufhof bleiben Passanten hängen: Einkäufer wie Kunstsuchende schauen durch das Glas. Eine Art Zuckerwatte-Manufaktur ist dort drapiert – ein rosarotes Suchbild. Lieblich ist der erste Eindruck: Die pastelligen Töne von Unterwäsche und Kosmetikartikeln erfüllen die Erwartungen beim ersten Blick in ein Kaufhaus-Schaufenster. Auf den zweiten Blick entsteht allerdings ein unbehagliches Gefühl, denn die künstliche Stimmung scheint in diesem Rahmen widersprüchlich: Eigenartige Materialien, Formen und schwer definierbare Objekte, hautfarbene Lackfolie, ein Roboterarm, klinisch-kühle Stahlrohr-Möbel, Gläser, Halterungen und Schläuche – Laborinventar bestimmt den kleinen Raum. Beim noch näheren Hinsehen kommen Assoziationen hoch: eine Szenerie aus „Das Schweigen der Lämmer“, ein Hinterzimmer von „Buffalo Bill“ vielleicht?

Mitten in dieser Kulisse sind zwei Roboter integriert, sogenannte Animatronics. Einer hängt von der Decke – eine schwer definierbare Konstruktion, die einem Tentakel, Schwanz oder einer Wirbelsäule, vielleicht aber auch einer Sonde ähnelt. Zitternd kräuselt sich das Getier in alle Richtungen wie ein Wurm aus Messingscheiben am Haken. Eine Art Roboterarm ist zudem auf einem Edelstahl-Rollwagen platziert. Seine Bewegungen ähneln einer perfekt und präzise durchgeführten chirurgischen Operation. Mit langen Fingern greift der sogenannte Movemaster den Gips-Abguss einer menschlichen Zunge, taucht ihn in einen Behälter mit heißem, rosafarbenem Wachs und setzt die fertige Groteske anschließend wieder in ihre Halterung. Es scheint als empfände er selbst Ekel dabei, dennoch wiederholt der Animatronic die Bewegung mit jeder Zunge behutsam, und es entstehen zarte Hautschichten, die sich von Mal zu Mal um die weißen Formen legen und jedem vormals toten Körperteil die Abstraktion nehmen.

In der Zwischenzeit schält sich der Maschinenbau-Student Kyle Kenney zwischen Instrumentenwagen und einem zentral inszenierten Stück Wirbelsäule aus dem 3D-Drucker vom Hinterraum in das Fenster und werkelt an dem Roboterarm. „Für mich ist immer noch unfassbar, welche Kreativität bei der Lösung von konstruktiven Problemen gefordert ist. Erworbenes Wissen immer wieder situativ anwenden – das ist eine Form von Kreativität und für mich das Wichtigste an meiner Arbeit.“ Neben seinem Studium arbeitete der gebürtige Kanadier mit verschiedenen Künstlern zusammen. Seine kreative Leistung als angehender Ingenieur und Programmierer fokussiert er dabei auf seine Animatronics – Roboter, die in einem bestimmten Kontext der Unterhaltung dienen sollen und zuweilen auch von ihren Gestaltern vermenschlicht werden.

Der Unterhaltung dienlich waren auch die geschichtsträchtigen Boudoirs aus der Renaissance, die laut Valeria Abendroth die Grundidee für die Gestaltung ihrer Arbeit lieferten: Es waren solche kleinen Räume, in die sich die Damen des Hauses zurückzogen, um sich mit sich selbst und vor allem ihrem Äußeren zu beschäftigen. Interessiert an der Einwirkung des Lebensumfelds auf die Psyche und Physis, beschäftigt sich die Künstlerin mit der Bedeutung des Frauenbilds, Herkunft, Identität, Körperlichkeit und Tradition in einem gesellschaftlich-sozialen Kontext. In diesem Zusammenhang entstand auch ihre Zusammenarbeit mit Kyle Kenney auf der documenta14, der das Thema zwar aus einer völlig anderen Richtung, aber mit ähnlicher Intention anging: Die Ängste der eigenen Unzulänglichkeit, die Industrialisierung und Digitalisierung seit über eineinhalb Jahrhunderten in den Menschen zu wecken scheinen, sieht Kenney in der gemeinsamen Arbeit durch seine Roboter dargestellt: „Der Animatronic macht sehr viel in dieser Installation. Die Maschine kann unendlich lange arbeiten, ohne müde zu werden, ist präzise, schnell und muss nicht bezahlt werden. Und so, inszeniert hinter Glas, zeigt er vielleicht einmal mehr die Gefahr der Ersetzbarkeit, die viele Leute auch erlebt haben. Roboter empfinden viele – verständlicher Weise – als Gefahr: Sie können Menschen ersetzen, und teilweise tun sie das natürlich auch schon. Das Schöne daran? Sie sind nicht kreativ! Das ist das, was die Menschen von ihnen unterscheidet.“ Kenney selbst sieht allerdings keine von Robotern ausgehende Gefahr, sondern vielmehr eine Zusammenarbeit: „Mit der Arbeit wollte ich zeigen, dass meine Maschinen Teil eines kreativen Prozesses sein können.“

Mit ihrer Installation „Costruzioni del Corpo“ balanciert Valeria Abendroth die Fragen nach der Menschlichkeit der Maschine sowie der Optimierung und Technologisierung des menschlichen Körpers aus. Zu sehen bekommen die Passanten ein rosafarbenes Gruselkabinett aus Werkstoffen, die dem menschlichen Körper nachzueifern scheinen. „Es sind künstliche, aber biokompatible Materialien, die Anspruch auf Lebendigkeit erheben und unseren Körper vielleicht irgendwann ersetzen“, so die russischstämmige Gestalterin. Des Weiteren inszenierte sie Equipment aus einem Dentallabor, mit dem Zahnprothesen hergestellt werden. Vor ihrem Studium der Bildenden Kunst war Valeria Abendroth mehrere Jahre als Zahntechnikerin beschäftigt, was die Laboraffinität in ihrer künstlerischen Entwicklung erklärt: Sie sammelte ausgesonderte Materialien und Werkstoffe wie Prothesenkunststoff, Zirkoniumoxid-Rohlinge, Kunststoffzähne, Silikon und Wachs. Und so entstehen die an Körper und Innereien erinnernden Skulpturen, die biomorph zu wachsen oder gar lebendig zu sein scheinen.

So geht der Mensch – mit technischen, pharmazeutischen und kosmetischen Mitteln – von der Präsenz in die Ersetzbarkeit und von der Natur in die Künstlichkeit über, um das Vollkommenheitsideal zu erreichen. Was die Arbeit „Costruzioni del Corpo“ auch zeigt: Letzten Endes ist menschliche Identität auch abhängig von der Eigenwahrnehmung des Körpers, denn unser Körperbild wird auch dadurch bestimmt, was wir durch ihn erleben und empfinden. Auch deswegen kam Valeria Abendroth nicht umhin, ein weiteres besonderes Element in ihr Kunstprojekt zu integrieren: In einem Plastikbecher mit einem orangefarbenen Deckel befindet sich ein Stückchen abgetrennte Bandscheibe der Künstlerin, das ihr vor der Ausstellung entfernt wurde, da es auf einen Nerv drückte. Der jungen Frau war es wichtig, einen Entwicklungsprozess sowie ein bewegtes, lebendiges Bild darzustellen. Durch die Zusammenarbeit mit Kyle Kenney ist eine Art Visualisierung der künstlichen Lebendigkeit gelungen: Entstanden ist ein Raum des inszenierten Kreationsvorgangs, eine Pastell-Version von Frankensteins Labor, in dem rosafarbene Zungen, Lippen und andere Körperteile zwischen Stangenware vom Band gehen. Die beiden Gestalter haben den Akt der Veränderung und Entwicklung auf symbolische Weise zu visualisieren gewusst, ohne dabei in Kitsch oder Pathetik abzurutschen. Was den Menschen ausmacht, machen sie mit ihrer Arbeit gerade durch das Fehlen dessen deutlich: Nur Haut, Hülle und eine dienende Maschine nehmen seinen Platz ein und erzählen stellvertretend im Rahmen dieses Kammerspiels eine Geschichte über Identität, Ideal und Endlichkeit.

FACTS

Projekt:

Costruzioni del Corpo

Gestaltung:

Valeria Abendroth > valeria-abendroth.com

Projektteam:

Valeria Abendroth
Kyle Kenney > lizard-truth.com

Standort:

Galeria Kaufhof, Kassel (DE)

Zeitrahmen:

28.07.2017–17.09.2017

Fotos:

Valeria Abendroth