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Ausstellungsgestaltung

1914 – Mitten in Europa

POSTED 17.07.2014
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Eine Ausstellung ist die Verschmelzung von Thema, Objekten und Raum.

Diese drei Einflussgrößen gilt es wissenschaftlich, organisatorisch, konservatorisch und raumbildend zu synchronisieren, so dass daraus ein Akkord im eigentlichen Sinn des Wortes erwächst. Der Ort der Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“, die Mischanlage auf der Kokerei Zollverein, erscheint uns heute als eine dafür geradezu geschaffene, inszenierte Raumabfolge. Karl Ganser, in den 1990er Jahren Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung Emscher Park und Initiator der Umnutzung der Kokerei, äußerte seine Überzeugung, die Mischanlage wäre ein wunderbares Ausstellungshaus, das die ersten 40 Jahre nur anders benutzt wurde. Seit der großen Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne – Kultur und Natur der Energie“ in den Jahren 1999 und 2000 fanden zwar noch viele kleinere Events in der Mischanlage statt. Dennoch ist das Gebäude heute beinahe aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden. Sucht man im Internet nach „Kokerei Zollverein“, so ist viel über Zollverein, die Historie, das Kokereiwesen, Gastronomie und Eisbahn zu erfahren, aber nur wenig über die Mischanlage.

Wohl kaum ist es ein Zufall, dass die Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“ mit ihren drei Hauptthemen (Vorabend des Krieges, Krieg und Nachkriegszeit) in ein Hochhaus – als ein solches gilt baurechtlich die Mischanlage der Kokerei – mit drei vertikal geschichteten Hauptebenen eingepasst wird. Die räumliche Konfiguration dieses, den funktionalen Notwendigkeiten einer Kokerei folgenden Raumkontinuums nimmt dabei mit noch vier weiteren, kleineren Nebenebenen wie selbstverständlich weitere Facetten verbindender Unterthemen auf.

Rundgang durch die Ausstellung

Das Publikum wird am Anfang mit allen Sinnen auf die Lebenswelt der Zeit um 1914 vorbereitet, in dem es vom südlich vorgelagerten so genannten Wiegeturm aus eine 150 Meter lange Reise in einer Standseilbahn antritt. Diese Installation aus dem Ende des 20. Jahrhunderts verweist auf Technologien vom Anfang jenes Centenniums, als die Ingenieure immer wieder neue Wege des Transports von Menschen und Material erfanden. Einst transportierte ein Förderband Kohle durch diese Bandbrücke in die Mischanlage; heute fahren in ihr auf zwei Gleissträngen und über eine einmalige doppelte Abt‘sche Weiche über zwei getrennte Winden vier Wagen mit je acht Plätzen gleichzeitig in einem Steigungswinkel von just zehn Grad; je ein Wagen beladen aufwärts und der andere leer nach unten. Oben, gleichsam in der zeitgenössischen Realität angekommen, empfangen technische, gesellschaftliche und politische Utopien aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Reisenden in Form von großen Theaterprospekten, kulissenartig zwischen die noch rudimentär erhaltenen Maschinen und Bandanlagen gespannt. Der Bergstation gegenüber öffnet sich ein Blick hinunter in die nördliche Bandbrücke, in der früher Kohle über die Köln-Mindener Bahnstrecke zur Kokerei gelangte. Während der Ausstellung blickt man dort auf die Dystopien des beginnenden 20. Jahrhunderts. Wer keine Höhenangst kennt, sollte noch einen Blick westwärts wagen, auf das Dach der Mischanlage gehen und am Ende eines sicheren Stegs die gigantische Anlage der Kokerei Zollverein, die noch tätige Kokerei Prosper-Haniel in Bottrop, den Gasometer Oberhausen oder die Stadtkrone Essens schauen. Aus dem obersten Teilgeschoss steigt man dann eine kleine Treppe hinunter auf ein weiteres Teilgeschoss, in dem im Gänsemarsch eine Abfolge von Architekturutopien aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet als selbstleuchtende Reproduktionen zu sehen sind.

Eine weitere halbe Treppe führt in die oberste vollständige Etage mit einer Fülle von Objekten aus der Zeit vor dem Großen Krieg. Über eine Länge von 25 Metern durchziehen drei Abwurfschlitze diese Etage. Einst arbeiteten hier drei Bandanlagen, die die von oben heruntergeschüttete Kohle in zwölf darunter liegende Bunker verteilten. Die zwei äußeren Bandanlagen sind erhalten und dienen als Substruktion für zwei Dioramen mit einer Vielzahl von technischen Exponaten und Dokumenten. Vor und auf den Maschinen werden diese durch Stahlrohr-Displays und eine gezielte Ausleuchtung, vom Gebäudebestand abgehoben. Zwei große, diagonal angeordnete Glaswände in der Mitte gliedern den Raum so, dass die verschiedenen Themen jeweils ein eigenes Umfeld haben. Sie verfügen jeweils über einen geschützten Innenraum, der sich für die Präsentation unterschiedlichster Objekte eignet. Die modulare Bauweise ermöglicht es, den Innenraum in alle Richtungen, ganz nach Bedarf, anzupassen. So können breite Textilien oder Gebrauchsgegenstände der Zeit, bis
hin zu Filmprojektoren und voluminösen Waschmaschinen gezeigt werden, je nach Abmessung im schmalen Luftraum der Glaswände, in speziell auskragenden Konsolen oder freistehend, die Glaswände als Fond nutzend. Die Fensterbänder an drei Seiten des Saals erinnern an die zeitgenössische Liebe zur Glasmalerei in stilisierter Form und dämpfen mit künstlerischer Ornamentik das helle Tageslicht. Die Bandanlagen über dem mittleren Abwurfschlitz wurden schon 1999 entfernt. Dieser ist über mehrere Brücken zu überqueren. Ein Blick 10 Meter tief nach unten, mitten ins nächste Thema – das Kriegsgeschehen – ist ein weiterer Nachweis für die szenische Einmaligkeit des Ortes. In gleicher diagonaler Ausrichtung wie die beiden Glaswände bietet sich am Ende des Raumes ein Durchgang zwischen zwei Reihen von Kostümen an, auf dem sich das Publikum mitten unter die Menschen am Vorabend des Weltkriegs mischt. ›Jeder wusste, dass ein „Weltenbrand“ bevorstand, doch niemand konnte wirklich daran glauben. Der zittrige Zustand wurde durch die Unzufriedenheit an der Gegenwart geschürt: Während sich Lebensreformer gegen die überkommene Moral auflehnten, prangerten Kulturkritiker die moderne Dekadenz an. Die Diagnose der „Nervosität“ war in aller Munde‹, wie es im Radiofeature von Guillaume Paoli „Nervosität – Vorahnung und Überdruss: Die Dämmerung zum 1. Weltkrieg“, Deutschlandradio Kultur, 23. Februar 2014, überschrieben war. Dieser Beschreibung will der Auftritt der Ausstellung entsprechen.

Durch eine Treppenanlage im nördlichen Abwurfschlitz taucht man in den nordwestlichen Bunker ein, in dem sich eine Treppe, immer an der Wand entlang, nach unten wendelt. Kein Fenster, kein natürlicher Lichtstrahl und dennoch ist es gerade dieser Raum, der sich der trügerischen Euphorie der Augusttage des Jahres 1914, die Guillaume Paoli als „Augustlegende“ bezeichnet, annimmt, dargestellt durch einen hinterleuchteten zentralen Bilderturm mit Fotos stolzer Soldaten, die auf den Krieg warteten, umgeben von der kaiserlichen Flagge und der Reichkriegsfahne.

Auf der 1999 in die Bunker eingebrachten Plattform lassen sich die restlichen elf Bunker – schmucklose Kammern mit Grundflächen von 60 bis 65 Quadratmetern, 10 Meter hoch, nur mit engstrahlenden Punktscheinwerfern beleuchtet – im Gegenuhrzeigersinn durchschreiten. Jeder Bunker nimmt – ohne enzyklopädischen Anspruch – Einzelthemen der Kriegsjahre auf, vornehmlich aus dem Blickwinkel der Menschen, die in dieser Region lebten, zuerst auch jubelten und dann litten: ein Blick aus der „Heimatfront“ – der Osten war weit weg, der Krieg im Westen fand in Frankreich und Flandern statt. Hier war die „Waffenschmiede des Reichs“, hier lief die Propagandaschlacht, herrschten Entbehrung und Hunger. Doch auch martialisches Kriegsgerät fehlt nicht – eine Feldhaubitze schwebt auf einer leichten Stahlrohr-Konstruktion über dem Publikum.

Die zwölf Bunker verjüngen sich nach unten hin trichterförmig. Im Treppenhaustrichter blitzt die Revolution am Ende des Krieges auf. Beim weiteren Herabsteigen eröffnet sich ein Panorama auf die letzte große Ebene, in der zwölf Trichter um sechs massive Pfeiler gruppiert ein kubistisches Raumgebilde vermitteln. Voller Tageslicht – natürlich haben wir die besonders schädliche ultraviolette Strahlung aus dem Raum verbannt – gruppieren sich Facetten der materiellen Hinterlassenschaft des Rheinlands und des Ruhrgebiets aus der Nachkriegszeit, die heute als Zwischenkriegszeit gesehen wird. Vom abwesenden Kaiser als Identifikationsfigur der Militärs und Teilen des Bürgertums, von Revolutionären und Putschisten, hin zum Aufbruch in Technik, Wissenschaft, Gesellschaft, Architektur,Kino, Sport und Politik gliedert ein diagonales Raster einen orthogonalen Rundgang. Überspitzt könnte man von einer dienenden Kristallarchitektur sprechen, in der die Objekte würdige Präsenz entfalten. Jedes Ding gelangt zu seiner Bedeutung und spricht das Publikum in beredter Zurückhaltung an. Die Glasarchitektur schafft die räumlichen Zusammenhänge und schützt die Objekte vor Zugriff und Verstauben.

Eine letzte Teilebene verweist auf die nachfolgende größte Katastrophe des Jahrhunderts, in gleicher Form wie schon der Auftakt ganz oben auf die Utopien verwies. Es ist der Schlusspunkt dessen, was Charles de Gaulle 1944 als „la nouvelle Guerre de Trente Ans“ formulierte – der Zweite Weltkrieg als Schlussakt des Krieges, der 1914 begann. Wiederum sind es Bildzitate in der Form einer Kulissenbühne, mit fotografischen Motiven, die das Publikum zum Abschluss der Ausstellung zur Kenntnis nehmen muss, um von der Bühne in die Hinterbühne hinabzusteigen und dann nach rechts abzutreten: zum Buchladen, ins Café und zur Kokereiführung im Weichbild der einstigen Waffenschmiede des Reichs. Manch einer wird nun wahrnehmen, dass der Ausstellungsparcours dem Weg der Kohle folgte!

FACTS

Projekt:

Sonderausstellung 1914 – Mitten in Europa

Gestaltung:

Prof. Jürg Steiner Architekt BDA > www.steiner.ag
Heerstrasse 97, D-14055 Berlin

Standort:

Mischanlage der Kokerei
Zollverein, Essen

Zeitrahmen:

30.04. – 26.10.2014

Foto:

Michael Rasche