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SHOP TILL YOU DROP! Virtual Retaility – Gelebte Wirklichkeit oder gehypte Blase?

POSTED 31.08.2016
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Digitale Erweiterungen unserer Welt oder auch vollkommen computergenerierte Landschaften bieten nicht nur erlebnisreiche Shopping-Erfahrungen on- und offline, sie ermöglichen zudem die Verkleinerung von Verkaufs- und Lagerflächen im stationären Handel sowie neue Chancen für den Online-Handel. Dennoch sind Anwendungen dieser Technologien gerade im Retail-Bereich noch wenig verbreitet. Um hier einen langfristigen Mehrwert zu generieren, sind dementsprechend nicht nur Kreativität, sondern auch nutzernahe Weiterentwicklungen sowie der Einsatz von sinnvollen Applikationen gefragt.

von Anna Bühling

Augmented Reality erfreut sich nicht erst seit Pokémon GO großer Popularität: Laut einer Umfrage der Unternehmensberatung Accenture aus dem Jahr 2014, sind Menschen gegenüber Anwendungen mit virtuellen Erweiterungen grundsätzlich sehr aufgeschlossen. Obwohl 59% der Befragten bislang keine eigenen Erfahrungen zu verzeichnen hatten, waren sich nur 30% unsicher, wie diese Technologie funktioniert und lediglich 23% fanden Augmented Reality unnütz. Der Retail-Branche eröffnen Augmented und Virtual Reality zumindest ein immenses Potential, indem sie Optionen bieten, das vielzitierte Storytelling – im Ladengeschäft bislang nur auf das Visual Merchandising, Visual Marketing oder Digital Signage am Point of Sale beschränkt – virtuos und beliebig zu erweitern. Auch das Einbinden spieltypischer Elemente – die sogenannte Gamification – scheint ein Kinderspiel zu sein und so können Kunden an Marken gebunden und Kaufanreize gesetzt werden. Diese Möglichkeiten ergeben sich nicht zuletzt aus dem Vermögen digitaler Welten, die Grenzen von Raum und Zeit nahezu komplett aufzuheben. Dennoch sind solche Erweiterungen – vor allem im Handel – aktuell noch wenig zu finden.

Gelebte Wirklichkeit

Woran liegt das? Ist es tatsächlich so schwer, virtuelle Wirklichkeiten gekonnt in den Retail einzubinden? Bereits realisierte Projekte geben dabei einen Einblick in die momentane Nutzung und zeigen, wohin sich der Trend bewegt: Mit dem Google-Projekt „Tango“ kann beispielsweise jede Person Augmented Reality-Ebenen kinderleicht selbst erstellen und die Umgebung mit Zusatzinformationen anreichern. Mithilfe eines mobilen Endgeräts, das über eine TOF-Kamera – ein 3D-Kamerasystem, das ohne Zuhilfenahme von GPS oder anderen signalbasierten Ortungstechnologien in der Lage ist, Räume und Gegenstände zu vermessen – verfügen muss, lässt sich die reale Welt digital erweitern. So können Informationsebenen etwa in Form von Produktkategorien im Supermarkt oder Preisinformationen zu einem preisschildfrei gehaltenen Schaufenster sowie die dazugehörigen Produktdetails hinzugefügt werden. Dank der TOF-Kamera ermöglicht „Tango“ zudem das Vermessen von Räumen sowie das Hinzufügen von Gegenständen, womit sich dreidimensionale Produktkataloge effektvoll verwirklichen lassen. Noch sind dem Projekt jedoch deutliche Grenzen gesetzt, da es nur mit einem einzigen spezifischen Smartphone, dem Lenovo Phab 2 Pro, funktioniert.

Möglichkeiten über Augmented Reality die Wirkung von Möbeln in der eigenen Wohnung zu testen, bieten des Weiteren zahlreiche Apps: „Pair“ fungiert zum Beispiel als Plattform, auf der verschiedene Möbelhersteller wie Vitra, Herman Miller oder IKEA ihre Produkte als räumliche Modelle zur Verfügung stellen. Mit der App können potentielle Kunden dann jene zuhause virtuell platzieren. Seinen eigenen dreidimensionalen Produktkatalog pflegt IKEA bereits seit 2013. Spielerisch können hier Seiten aus dem herkömmlichen Katalog mit einer App gescannt und – über das Display eines mobilen Endgeräts – Produkte in den Räumen des Kunden betrachtet werden. Solch anschauliche Anwendungen bieten jenem eine sinnvolle Entscheidungshilfe, erleichtern On- und Offline-Händlern ihr Geschäft und führen zu einer Verringerung des Warenrücklaufs.
Kein Wunder also, dass der schwedische Möbelriese weiter an den Möglichkeiten der virtualisierten Realität forscht: Beim Pilotprojekt „IKEA VR Experience“ kann mit einer HTC Vive VR-Brille seit Anfang April 2016 eine computermodellierte IKEA-Küche virtuell erkundet und Farben sowie Materialien der Schubladen und Fronten angepasst werden. Nutzer können außerdem die Küche aus der Perspektive eines Kleinkinds erleben, was bei der Planung hilft, potentielle Gefahren zu vermeiden. Die Erscheinung der virtuellen Küche ist jedoch nicht fotorealistisch und dass sie nur oberflächlich anpassbar ist – weder Raum noch Zusammenstellung können verändert werden – ist etwas enttäuschend. Darüber können auch spielerische Elemente, wie die Aufforderung, herumliegendes Gemüse zu kochen oder zu entsorgen, nicht hinwegtrösten. Jedoch dürfte es sich bei der Pilot-Anwendung lediglich um einen Vorgeschmack dessen handeln, was uns IKEA in den nächsten Jahren mit virtuellen Wohnwelten bieten will.
In Kooperation mit 747 Studios hat die Hamburger Agentur Demodern für den Möbelhersteller interlübke bereits heute einen immersiven Produktkatalog geschaffen: Das B2B-Tool „Loftshift“ vermittelt dabei definitiv ein anderes Gefühl für die Designermöbel als es ein zweidimensionaler Katalog je könnte. Hier kann sich der Zwischenhändler in einem, vom Hamburger Innenarchitekten Daute Shojaei entworfenen, anschließend computergenerierten, fotorealen Loft frei bewegen und dabei Raum und Möbelstücke erkunden sowie die Möblierung, Möbelkonfiguration und Lichtstimmung anpassen.

Im Fashion-Bereich stehen natürlich die Kunden selbst im Mittelpunkt der Anwendungen: Sogenannte Virtual Dressing Tools ermöglichen durch dreidimensionale Körpervermessung beispielsweise eine virtuelle Anprobe. Die Ergebnisse mit solchen 3D-Scannern oder Maß-Eingabe-Systemen reichen dabei von dreidimensional bewegbaren Avataren mit angepassten Körpermaßen bis hin zu virtuellen Spiegelbildern der Kunden. Damit werden einerseits Voraussetzungen für entspanntes Shoppen in der Stadt oder von zuhause aus geschaffen, und andererseits ist in Kombination mit Lieferservices eine Reduzierung der Laden- und Lagerfläche des Händlers denkbar. Künftig könnten Stores sogar ganz auf Umkleidekabinen verzichten und damit auch die Diebstahlrate senken. Im E-Commerce führen derartige Dienstleistungen sogar zu einer bis zu 30% höheren Konversionsrate gegenüber herkömmlichen Online-Shops.
Bislang wurde im Fashion-Bereich vornehmlich damit experimentiert, Kunden immersiven an Modenschauen teilnehmen zu lassen: Topshop bot Käufern bereits 2014 die Möglichkeit, mit einem Head-Mounted Display im Schaufenster sitzend eine Fashion-Show wie aus der ersten Reihe zu erleben. Neben dem 360-Grad-Erlebnis war diese gespickt mit Backstage- und statischem Bildmaterial, das durch Kopfbewegungen bedienbar war. Auch Tommy Hilfiger ließ im Oktober 2015 Kunden in ausgewählten Shops virtuell an einer Modenschau teilhaben, wobei die Looks der Show anschließend im Laden erworben werden konnten. Zweifelsohne bietet eine solche Erweiterung des Stores ein aufregendes, kundenbindendes Erlebnis, hat aber strenggenommen mit Virtual Reality lediglich die Nutzung einer VR-Brille – hier als Abspielgerät für ein 360-Grad-Video – gemein sowie die Fähigkeit, unabhängig von Zeit und Ort, bestimmte Situationen zu erschaffen.

Weitere Ansätze zur Verwendung von virtuellen Wirklichkeiten sind ebenfalls in der Automobil-Branche zu finden: Volvo verschickte 2015 etwa Google Cardboards, die in Kombination mit Smartphones zur VR-Brille werden. Mit einer App konnten sich die Nutzer damit virtuell auf eine Testfahrt durch computergenerierte Landschaften begeben, mit denen die atmosphärischen Markenwelten von Volvo vermittelt werden sollten.
So können auch Autohäuser mithilfe virtueller Wirklichkeiten erheblich erweitert werden: Audi bietet Kaufinteressenten beispielsweise an, sämtliche Konfigurationen des In- und Exterieurs sowie Fahreigenschaften von Audi-Modellen vor Ort mit einer Occulus Rift-Brille sowie Kopfhörern von Bang & Olufsen zu erleben.
In einer Kooperation von Volvo und Microsoft entstanden sogar Showrooms, die ganz auf reale Automobile verzichten: Dank der Microsoft HoloLens-Technologie können Interessenten hier mit einer VR-Brille dreidimensionale, hologrammähnliche Modelle der Fahrzeuge sowie bewegte Szenen ansehen oder ihr Wunschauto konfigurieren. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob diese bloße technische Spielerei ohne reale Autos einen finalen Kaufanreiz bieten kann. Es handelt sich hierbei jedoch noch um Pilotprojekte, die nur einen Ausschnitt der aktuellen Entwicklungen abbilden.

Gehypte Blase?

Bei allem Hype, der momentan um Augmented und Virtual Reality herrscht, darf im Handel der analoge Raum selbstverständlich nicht vergessen werden: Um beim Nutzer einen Initialimpuls zu wecken, die eingebettete virtuelle Erweiterung auch zu nutzen, werden künftig mehr denn je starke analog-reale Räume als Reizgeber benötigt. Einer Abstumpfung gegenüber digitaler Überflutung kann dabei mit gut gestalteten Dockingstations für analoge Add-ons entgegengewirkt werden. Daneben sind virtuelle Erlebnisse im Retail stark von den Geräten beim Händler oder der Gerätekompatibilität der Apps abhängig, da Kunden kaum stets das passende Endgerät zur Hand haben können. Werden virtuelle Erlebnisse im Retail in sinnstiftende, mehrwertgenerierende Bahnen gelenkt und Gerätekompatibilität geschaffen, kann es bald mehr spannende Anwendungen geben, die das Potential erweiterter und virtueller Wirklichkeiten sowie den analogen Raum sinnvoll nutzen und ergänzen. Dann können auch Händler langfristig von Vorteilen wie Kundenbindung, Flächenreduzierung, erhöhten Konversionsraten und verminderten Rückgaberaten profitieren.

 

Weitere Beiträge aus unserer Retail-Reihe sowie das gesammelte Glossar zur Reihe finden Sie hier: SHOP TILL YOU DROP! Inszenierungen im Warenraum – Wie und wo wir in Zukunft einkaufen werden.

FACTS

Fotos:

1 Pair (US) > www.pair3d.com
2 Inter IKEA Systems B.V., Delft (NL) > www.ikea.com
3, 4 Demodern GmbH, Hamburg (DE) > demodern.de
5, 6 Tommy Hilfiger Corporation, Amsterdam (NL) global.tommy.com
7, 8 Audi AG, Ingolstadt (DE) > www.audi.de
9,10 Volvo Car Corporation, Göteborg (SE) > www.volvocars.com