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Wie stellt man Literatur aus?

POSTED 21.10.2010
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Sieben mal Goethes Wilhelm Meister

Was mit einer Frage begann, führte sieben Kuratoren- und Gestalterteams nach intensiver Auseinandersetzung zu sieben grundverschieden inszenierten Antworten, die derzeit im Frankfurter Goethehaus zu sehen sind. Anhand von Goethes Wilhelm Meister ist daraus eine anregende „Meta“-Ausstellung entstanden, die anschaulich vorführt, dass das Literaturausstellen keine Unmöglichkeit, sondern erkenntnisreiches Vergnügen sein kann.
Die Installationen im Arkadensaal des Goethehauses sind analog zum Versuchsaufbau des Projektes als einzelne Stationen im Raum platziert. Auf der kuriosen schwarzen Bank mit den Scherenschnittlehnen von Rose Epple und Detlef Weitz stehen große, in verschiedenfarbigen Leinen gebundene Bücher in Plexiglasschubern. Da gibt es ein Buch der Einbände, ein Buch der Schrift, der Typografie, der Satzspiegel, der Vorsatzpapiere usw. Die chronologische Sammlung der immer gleichen Seiten aus 50 Ausgaben entbehrt nicht ästhetischem Reiz und ermöglicht überraschende Beobachtungen. Wie viel hat sich in zwei Jahrhunderten Publikationsgeschichte geändert – von vier mit Spannung erwarteten Bänden in 1795 (980g) schrumpft der Roman 200 Jahre später auf ein paar Seiten mit Zeilenzähler im namenlosen Band einer Gesamtausgabe (482g) – und wie wenig: Nach der Zäsur 1945 und dem damit verbundenen spurlosen Verschwinden der vielfältigen Frakturschriften scheint einzig die Garamond als akzeptable Satzschrift für den Bildungsroman zu gelten.
Verblüffend anschaulich wird die Architektur und der Rhythmus von Goethes Satzbau in dem Beitrag „Satz-Baukunst“ verräumlicht: Ein schwarzer mit weißem Text bedruckter Teppich führt hier aus der Mitte des Raumes die Rückwand hinauf. Bei dem Text handelt es sich um die Beschreibung des Eiertanzes der Mignon, bei dem die geheimnisvolle Gefährtin Wilhelms rohe Eier auf dem Boden verteilt und dann mit verbundenen Augen um diese herumtanzt, ohne darauf zu treten und sie zu zerbrechen. Auch auf diesem Ausstellungsteppich liegen Eier, es sind allerdings PingPong-Bälle, die jeweils die Satzzeichen der Passage markieren – und wenn man sich die Schuhe auszieht, kann man den Rhythmus von Goethes Satzbau sogar nachtanzen.

Souverän und doch amüsant

Der gesprochene Text, der den Besucher als subtiles Hintergrundgeräusch durch die Ausstellung begleitet,  wird repräsentiert durch die „Leser-Stimmen“. Auf drei hängenden Monitoren lesen Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft dem Besucher aus dem Wilhelm Meister vor. Dabei schauen sie ihm direkt in die Augen, und die Empathie ist groß, wenn sich das kleine Mädchen durch so schwierige Wörter wie „Offizierchen“ quält oder der junge Mann, der ganz offensichtlich sonst nicht so alte Schinken liest, an der schieren Länge der Goetheschen Sätze verzweifelt. Die Sprache des Romans trifft hier so direkt und erfrischend unvermittelt auf den heutigen Menschen, dass man gleich mitlesen möchte.
Gerahmt werden diese drei freistehenden Installationen an den Rückwänden durch einen Fries von Figuren, die wie in Mix Max-Bilderbüchern ihre Unterleiber, Torsen und Köpfe zu oft hin und hergeschoben zu haben scheinen: hier ein Barbiekopf auf einem steinernen Torso, da ein Elvis der Spätzeit. Die Versatzstücke aus der Popkultur, die sich mittels Sprechblasen verständigen, sind jeweils auf den Sockel des Frankfurter Goethe- Denkmals aufgepfropft und entpuppen sich als die zahlreichen Protagonisten des Romans. In den Inschriften auf dem Denkmalsockel wird ihr Charakter und ihre Funktion im Roman auf höchst amüsante Art erklärt und kommentiert – so souverän wie es sich nur eine so renommierte Literaturwissenschaftlerin wie Evelyne Polt-Heinzl erlauben kann, die hier mit Peter Karlhuber zusammengearbeitet hat.
Auch die zwei Europaletten, auf denen englische und deutsche Zeitungen für den Besucher zum Mitnehmen ausliegen, sind weniger als Ausstellungsinstallation an sich gedacht, sondern erfüllen die Funktion, den Besucher wieder aus der Ausstellung hinaus und in den Roman hinein zu führen. Susanne Fischer und Friedrich Forssmann schicken den Besucher mit der Zeitung als Reiseführer auf seine ganz persönliche Reise durch den Roman und durch Frankfurt. An ausgesuchten Orten soll er ausgesuchte Stellen lesen und dabei das bildende Moment des Reisens als Motiv des Bildungsromans am eigenen Leib erfahren.
Wer sich jemals gefragt hat, ob Literatur eigentlich wirklich nur ein altes Buch in einer Vitrine ist, sollte diese Ausstellung auf keinen Fall verpassen.

FACTS

[lang_de]Projekt:

„Wie stellt man Literatur aus?“ – eine Ausstellung im Rahmen des Projektes „Internationale
Literaturausstellungen in Theorie und Praxis“[/lang_de][lang_en]Project:

[lang_de]Gestaltung:

Susanne Fischer, Friedrich Forssman: Raum-Erkundungen
Evelyne Polt-Heinzl, Peter Karlhuber: Figuren-Spiele
Heike Gfrereis, Diethard Keppler: Satz-Baukunst
Rose Epple, Detlef Weitz, chezweitz & roseapple: Buch-Körper
Nicola Lepp, Hannah Leonie Prinzler: Leser-Stimmen
Jean Luc Cornec: Meister-Monument
Olivia Varwig, Petra Eichler, Susanne Kessler: Erinnerungs-Szene
Holger Wallat: Gestaltung Meta Ebene[/lang_de][lang_en]Design:

[lang_de]Standort:

Arkadensaal des Freien Deutschen Hochstifts im Goethe-Haus, Frankfurt am Main[/lang_de][lang_en]Location:

[lang_de]Zeitrahmen:

28.08.2010-01.11.2010[/lang_de][lang_en]Time frame:

[lang_de]Auftraggeber:

Literaturreferat im Kulturamt Frankfurt am Main in Kooperation
mit dem Freien Deutschen Hochstift, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes[/lang_de][lang_en]Client:

[lang_de]Fotos:

Wolfgang Günzel (Ausstellung) und Isabel Prugger (Buch-Körper)[/lang_de][lang_en]Pictures: